Sein Leben ist wie eine griechische Tragödie: beispielloser Aufstieg, an der Spitze die Wende, dann der tiefe Fall. In etwa so beschreibt es auch der Filmemacher Asif Kapadia, dessen Maradona-Doku diesen September in die Kinos gekommen ist.
Diego Maradona, der Fussballgott aus Argentinien, der in seinem Land bis heute gefeiert wird. Trotz aller Eskapaden – Kokain, Alkohol, Prostituierten, Steuerhinterziehung, häuslicher Gewalt, Autounfälle im Suff, Nähe zu Mafiosi, trotz unehelicher Kinder, die hier und dort auftauchen. Wie kann das sein?
Der argentinische Journalist und Maradona-Kenner Carlos Ares aus Buenos Aires erinnert sich an eine Anekdote, die wenig erzählt wird. «Als dreijähriger Junge ertrank Maradona beinahe in einer Sickergrube vor seiner Wohnhütte. Er wollte seinen Gummiball holen, der zuvor reingefallen ist», sagt er gegenüber watson.
Zufälligerweise habe dies ein Onkel gesehen und den kleinen Diego gerettet. «Maradona wurde durchtränkt von Exkrementen herausgezogen, samt seines heissgeliebten Balls, den er fest an sich drückte.» So sei er aufgewachsen, in einem Viertel, wo es keine Kloaken, kein fliessendes Wasser, nichts gab – in der miserabelsten Gesellschaftsschicht. «Niemand erwartet, dass von dort aus jemand Spezielles hervorgeht.»
Das geschah aber, und zwar ein Fussballgenie, ein Jahrhunderttalent. Und dies in einem Land, wo Fussball eine Religion ist. Als 18-Jähriger gewann Maradona mit Argentinien die U20-Weltmeisterschaft in Japan. Darauf kaufte ihn Boca Juniors, der wohl bekannteste Club Argentiniens. Nach einem Zwischenstopp im FC Barcelona kam Diego als 23-Jähriger nach Süditalien. Dank ihm wurde die damals mittelmässige SSC Napoli 1987 zum ersten Mal in ihrer Vereinsgeschichte italienischer Meister. Das arme, dreckige und chaotische Neapel, das von den reichen Norditalienern bislang nur mit Verachtung gestraft wurde, erlangte Weltruhm. Der Star: Maradona. Ohne Bodyguards konnte er nicht mehr aus dem Haus.
Aber «Dios», Gott, das wurde Maradona im Jahr 1986. Als er losrannte, den Ball am Fuss, fast übers ganze Spielfeld dribbelte, sechs Gegenspieler umkurvte, und dann: Schuss. Goal! «Argentinien hatte 1982 den Falklandkrieg gegen die Engländer verloren, und dann stehen sich wenige Jahre später England und Argentinien im WM-Viertelfinal in Mexiko gegenüber», erklärt Ares, «eine Art anderer Krieg also, auf dem Spielfeld.»
Maradona schoss zwei Tore, das Erste, das berühmte Hand-Goal, das Zweite, das Dribbel-Goal, das als das beste in der Fussballgeschichte gilt. Und am Ende gewann das südamerikanische Land sogar die WM. «Die kühnsten Fantasien jedes Argentiniers wurden Realität. Die zwei Tore und das Foto von Maradona mit dem WM-Pokal in der Hand haben sich in unsere Köpfe eingebrannt.» Hier sei die Geschichte für immer stehen geblieben.
Aus dem Maradona-Kult wurde eine Religion. Fans gründeten sogar die Maradona-Kirche, die Iglesia Maradoniana. Ostern wird am 22. Juni gefeiert, Datum des Triumphes über England. Weihnachten zu Maradonas Geburtstag, am 30. Oktober. Beten tut die Glaubensgemeinschaft das «Diego Unser».
Die Argentinier sind ein rebellisches Volk, wild, stolz. Maradona hat sich nicht nur mit dem Ball in ihre Herzen gespielt. Sondern auch am Mikrofon. Nie nahm der Fussballgott ein Blatt vor den Mund. Er sagte Dinge, die andere nicht zu sagen wagten. Die Argentinier konnten sich mit ihm identifizieren, liebten seine Direktheit und political incorrectness. Er sprach über Ungerechtigkeiten und wetterte gegen die Mächtigen. Gegen den Papst, die Kirche, die FIFA, die USA, gegen Bush. Auf seiner rechten Schulter sichtbar sein Che Guevara-Tattoo. Maradona vergass nicht, aus welcher Schicht er kam. Wenn Spielerkollegen Geld fehlte, schenkte er es ihnen.
In Neapel fing sein tiefer Fall an, sein Leben wurde exzessiv. Mehr und mehr spielte er an der weissen Linie entlang. Er kokste viel. 1991 verliess er den Club und 1996 endete seine Sportlerlaufbahn. Maradona war ein Wrack. Drei Mal schlitterte er nur knapp am Tod vorbei. Er stürzte immer wieder ab, stand wieder auf. In den vergangenen rund zwanzig Jahren versuchte er sich als Fussballtrainer, nicht sehr erfolgreich. Darunter als Trainer der argentinischen Nationalmannschaft (2008-2010). Dann auch in Dubai und Mexiko.
Diesen September las man in den internationalen Medien wieder vermehrt über den Jahrhundertfussballer. Nicht nur wegen der Kinodokumentation «Diego Maradona», die bei den Filmfestspielen Cannes Weltpremiere feierte und die sich auf Maradonas turbulente Zeit in Neapel konzentriert. Sondern auch weil er beim Erstligaclub Gimnasia y Esgrima in Argentinien als neuer Trainer begonnen hat.
Beim ersten Training kamen rund 26'000 Fans. Sie bejubelten und besangen ihn. Von den Rängen schallte es: «Wer nicht hüpft, der ist Engländer» – in Gedenken an die fantastischen Tore von 1986. Maradona war gerührt. Jedoch: Wenn er redet, versteht man ihn heute meist schlecht. Seine Aussprache ist undeutlich, fast lallend. Das sind die vielen Medikamenten, die er angeblich mit Alkohol einnimmt.
Maradona ist Argentinien. Ungereimtheiten und Fatalismus gehören zum Alltag. Es geht rauf, es geht runter. Wieso sollte man also Maradona nicht weiterhin verehren? Auch wenn er körperlich und geistig nicht mehr auf der Höhe ist.
#TNTSports | Diego Maradona no se fue conforme con el arbitraje de Mastrángelo: “Lo teníamos, pero llegó ese penal.”#Talleres 🆚 #Gimnasia pic.twitter.com/y5tUQfTO8k
— TNT Sports LA (@TNTSportsLA) September 24, 2019
Die Hoffnung bleibt, dass er irgendeinmal wieder ganz aufsteht. So wie Argentinien, das wieder vor einem wirtschaftlichen Crash steht. «In diesem von Krisen gebeutelten Land steigt immer wieder ein Maradona durchtränkt von Exkrementen aus einer Sickergrube heraus – mit dem Ball unter dem Arm», so Ares. «Wir hier in Argentinien wissen, dass Gott nicht mehr existiert, aber uns bleibt nichts anderes übrig, als daran zu glauben.»
Argentinien kann momentan alles brauchen was sie von ihrer politischen und wirtschaftlichen Misere ablenkt.