Grosse Aufregung nach dem EM-Viertelfinal-Out von Gastgeber Deutschland. Das Team von Julian Nagelsmann scheitert nach einem Gegentreffer in der 119. Minute dramatisch mit 1:2 gegen Spanien – und ärgert sich vor allem über ein mögliches Handspiel.
In der 106. Minute schiesst Jamal Musiala aus aussichtsreicher Position aufs spanische Tor, sein Abschluss aus rund 16 Metern klatscht jedoch aus kurzer Distanz an den Arm von Verteidiger Marc Cucurella, der dabei im Strafraum steht.
Riesige Aufregung auf den Tribünen und der deutschen Ersatzbank. Die deutschen Spieler heben sofort den Arm und rennen in Richtung Schiedsrichter Anthony Taylor. Doch die Pfeife des englischen Schiedsrichters bleibt stumm – und auch der VAR schreitet nicht ein. So setzte es in der 119. Minute den spanischen Siegestreffer per Kopfball durch Mikel Merino.
Es war eine ganz strittige Szene, denn ähnliche Vergehen wurden an dieser EM auch schon gepfiffen. Für SRF-Schiedsrichter-Experte geht der Nicht-Pfiff aber in Ordnung: «Cucurella probiert, den Arm an den Körper zu ziehen. Als er getroffen wird, ist der Arm auch unten. Für mich ist alles okay, weiterspielen», meldet er aus dem SRF-Studio in Zürich.
Auch die ARD-Schiedsrichter-Expertin Bibiana Steinhaus verteidigt ihren Kollegen: «Cucurella steht mit beiden Beinen fest auf dem Boden und hat eine natürliche Armhaltung. Auch wenn er seine Körperfläche leicht vergrössert, ist das kein Elfmeter», urteilt sie. Der Video-Schiedsrichter könnte hier nicht einschreiten, weil es keine glasklare Fehlentscheidung sei.
Der ehemalige deutsche Spitzen-Schiedsrichter Thorsten Kinhöfer sieht das jedoch anders: «Für mich war es eher Elfmeter, weil die Hand klar raus war. Aber für Taylor war es eine natürliche Bewegung», sagte Kinhöfer zur «Bild»-Zeitung, die schon unmittelbar nach Schlusspfiff gross «Elfer-Wut!» titelte. Auch der deutsche Ex-Schiedsrichter Manuel Gräfe bewertete Taylors Entscheidung als falsch, wie er auf X schrieb. Sein Urteil zu Cucurrellas Handspiel: «Strafbar.»
ARD-Experte Bastian Schweinsteiger verstand die Welt ebenfalls nicht mehr: «Das muss mir einer erklären. Mein Herz blutet. In neun von zehn Fällen ist das Elfmeter. Er hat die Hand draussen. Hier hatten wir riesiges Pech. Ich war verwundert, warum er sich das nicht noch einmal angeschaut hat. Ich bin gespannt auf seine Erklärung», so der Weltmeister von 2014.
Das sah auch Bundestrainer Julian Nagelsmann so. Er wurde auf der Pressekonferenz nach Spielschluss deutlich: «Es wäre schön, wenn man bewerten würde, was mit dem Ball auch passiert. Wenn Jamal den Ball in die Stuttgarter Innenstadt schiesst, will ich keinen Elfmeter haben. Der Schuss von Jamal geht aber aufs Tor. Dass es da dann keinen Elfmeter gibt, kann ich nicht nachvollziehen.»
Dass es in solchen Situationen keinen Strafstoss geben wird, hatte UEFA-Schiedsrichter-Chef Roberto Rosetti jedoch schon vor dem Turnier angekündigt. Zwei Tage vor dem Eröffnungsspiel präsentierte er verschiedene Videos, die er nach eigenen Angaben auch den Spielern der Teams vor dem Turnier gezeigt hatte.
Ein Video zeigte eine Situation, die derjenigen aus dem heutigen Viertelfinal sehr stark ähnelte. Sie stammte aus dem Champions-League-Spiel zwischen RB Leipzig und Manchester City. Castello Lukeba bekam den Ball dort aus einer vergleichbaren Entfernung in einer ähnlichen Weise an den Arm.
«Das ist niemals ein Elfmeter», sagte Rosetti unter Bezugnahme auf das Spiel in Leipzig. «Der Arm ist nah am Körper in einer natürlichen Position. Der Spieler versucht noch, den Ballkontakt zu vermeiden.» Rosetti sagte, dass man bei der EM genauso vorgehen werde wie im Europacup. Ein weiterer Indikator für fehlende Absicht: Der Arm schwang nach dem Ballkontakt zurück.
Vielleicht sind die ganzen Diskussionen aber sowieso hinfällig, denn Niclas Füllkrug, der per Kopf auf Musiala abgelegt hatte, könnte beim Zuspiel von Thomas Müller ganz knapp im Abseits gestanden haben. Abschliessend klären lässt sich die Offside-Frage aber nachträglich nicht. Die Szene wurde im TV auch nicht aufgelöst, die halbautomatische Abseitserkennung nicht eingeblendet.