Es ist eines der traurigsten Kapitel, das die Schweizer Fussball-Nationalmannschaft schreibt. Dabei ist für sie eine Helden-Rolle vorgesehen. Der Aussenseiter, der die Welt erobert. Man traut es ihr plötzlich zu.
Es läuft ja auch alles perfekt. Zwei Siege, ein Unentschieden, kein Gegentor in der Gruppenphase. Platz 1 vor den stolzen Franzosen mit ihrem noch stolzeren Anführer Zinédine Zidane. Und dann, im Achtelfinal, die Ukrainer. Das schwächste Team unter den letzten 16. Mehr als nur eine machbare Aufgabe. Beinahe Pflicht, dieses Spiel zu gewinnen.
Verbunden durch die Erlebnisse einer beschwerlichen WM-Qualifikation mit den finalen Tumulten in Istanbul, ist aus dieser Equipe eine Einheit entstanden, die diesen Namen mehr als verdient. Das Volk ist entzückt und lässt sich mitreissen von der Euphorie, die diese Mannschaft entfacht. Es entsteht eine emotionale Verbundenheit, wie wir sie seither nie mehr erlebt haben. Die Schweiz verwandelt sich im Sommer 2006 plötzlich in ein Fussballland.
Köln, 26. Juni. Die Mannschaft von Köbi Kuhn wirkt gehemmt. Wie der Gegner aus der Ukraine. Daraus entwickelt sich eine groteske Patt-Situation. Keiner sucht den Sieg. Beide wollen die Niederlage verhindern. Fussball, zäh wie Caramel. 117 quälende Minuten. Dann hat Trainer Köbi Kuhn eine Eingebung, die im Moment Entsetzen auslöst und sich leider nicht als Traum entpuppt. Unmittelbar vor dem Penaltyschiessen wechselt er Alex Frei, den sichersten Schützen, aus.
Kuhns Fauxpas, der von Torhüter Zuberbühler gehaltene Elfmeter von Schewtschenko, die verschossenen Elfmeter von Streller, Barnetta und Cabanas – alles bis ins letzte Detail diskutiert und analysiert. Aber der Mann, der für Frei eingewechselt wird, von dem sich Kuhn die Erlösung erhofft, fliegt unter den Radar.
Der Start ins WM-Abenteuer ist für Mauro Lustrinelli leidvoll. Obwohl Kuhn verspricht, allen Spielern in der Vorbereitung eine Bewährungschance zu geben, kommt der Tessiner als einziger nicht zum Einsatz. Er ist der unsichtbare Dritte im Sturm hinter Alex Frei und Marco Streller. Und beschwert sich darüber. «Respektlos», diktiert er den wenigen Journalisten, die sich für ihn interessieren. Groll führt er trotzdem nicht im Reisegepäck nach Deutschland mit.
Mittlerweile arbeitet Lustrinelli, 44, erfolgreich als Trainer der U21-Nati. Er hat sich 2011 zum zweiten Mal mit seiner Frau und den beiden Jungs (heute 13 und 10) in Thun niedergelassen. Zum Gespräch in der Altstadt fährt er mit einem weissen Fahrrad vor. Kurz vor dem nächsten Rendez-vous mit der Ukraine (am Donnerstag) blicken wir nochmals auf die Ereignisse von Köln zurück. Aus der Optik des unsichtbaren Dritten. Des Mannes, der indirekt zum Buhmann geworden ist, weil für ihn Alex Frei weichen musste.
«Eine phantastische Ambiance im Team.» Es ist das Erste, was Lustrinelli im Zusammenhang mit der WM 2006 einfällt. Erstaunlich daran: Es sind die Worte eines Nebendarstellers. «Natürlich, ich war fit, super drauf. Ich wollte spielen, Protagonist sein. Aber da waren Frei, Streller, auch Hakan Yakin. Das ist echt harte Konkurrenz. Deswegen habe ich meine Rolle klaglos akzeptiert.» Und er wird dafür belohnt. Er kriegt seinen grossen WM-Moment. Im zweiten Gruppenspiel, vor dieser imposanten Schweizer Kulisse im Dortmunder Westfalenstadion, wird er beim Stand von 1:0 gegen Togo vier Minuten vor Schluss für Frei eingewechselt. Es werden vier Minuten für die Ewigkeit für den Mann, der erst mit 23 Profi wurde, weil für seine Eltern zuvor das Wirtschaftsstudium wichtiger war, und der erst mit 29 erstmals für die Nati aufgeboten wurde. Es sind vier Minuten, in denen er Barnetta das 2:0 serviert.
Lustrinelli kriegt seinen zweiten WM-Moment. Im Achtelfinal gegen die Ukraine. Lange sieht er einem Spiel zu, dem es an Intensität und Souplesse mangelt. Er, der wirblige, unberechenbare Stürmer mit dem Spitznamen «Lustrigoal», könnte daran vielleicht etwas ändern. Denkt er sich. Auf der Bank.
Je näher das Penaltyschiessen rückt, desto intensiver macht sich Lustrinelli für einen Einsatz bereit. «Ich habe mir vorgenommen, auf dem Platz wirklich alles zu geben. Entweder gelingt mir der Lucky Punch, andernfalls bin ich zumindest mental bereit für das Penaltyschiessen.» Als er mitkriegt, für wen er in der 117. Minute eingewechselt werden soll, fragt er: «Ist das richtig? Muss Alex raus? Er ist doch unser Penaltyschütze!» Ob er Kuhn oder Assistent Michel Pont mit der Frage konfrontiert hat, weiss Lustrinelli heute nicht mehr.
Auch Lustrinelli sollte einen Penalty schiessen. Den letzten. Aber dazu kommt es nicht. «Wenn man verliert, sucht jeder nach Fehlern. Am Ende kannst du darüber ein Buch schreiben. Viele haben mich hinterher gefragt, warum nicht ich den ersten Penalty geschossen habe. Es stimmt, wir haben damals eine grosse Chance vergeben. Aber nicht Streller, nicht Frei, nicht Kuhn, nicht Lustrinelli, sondern wir. Die Geschichte ist vorbei. Der Konjunktiv bringt uns nicht weiter.»
Die Ereignisse rund um die WM haben gleichwohl Einfluss auf seine Arbeit als U21-Trainer. «Das Innenleben einer Mannschaft ist enorm wichtig für den Erfolg», sagt Lustrinelli. «Als Trainer muss man die Dynamik, die entsteht, wenn 40 unterschiedlichste Menschen zusammenarbeiten, im Griff haben. Und vor allem muss man diese 40 Menschen auf ein gemeinsames hohes Ziel einschwören.» Wahrscheinlich hat 2006 genau das gefehlt: ein hohes Ziel. Und wahrscheinlich wird sich Lustrinelli mit seiner U21 auch deshalb erstmals nach 2011 für eine EM qualifizieren, weil die Gier seiner Spieler grösser ist als der Respekt vor scheinbar übermächtigen Kontrahenten wie Frankreich. Es wäre Lustrinellis Meisterstück als Trainer.
2018 übernahm Mauro Lustrinelli den Trainerjob bei der U21-Nati. 2011 hatte die U21 letztmals an einer EM teilgenommen. Unter dem 44-jährigen Tessiner hat die höchste Nachwuchsauswahl grosse Fortschritte erzielt. Die bisherigen vier Qualifikationsspiele hat sie alle gewonnen. Insbesondere der 3:1-Heimsieg gegen die Franzosen ist ein veritabler Coup. Am Freitag trifft die U21 in Schaffhausen auf die Slowakei. Vier Tage später tritt sie gegen den gleichen Gegner auswärts an. Die 9 Gruppenersten sowie die 5 besten Gruppen-Zweiten qualifizieren sich für die EM nächstes Jahr in Ungarn und der Slowenien. (bzbasel.ch)
...wohl aus den selben Gründen weshalb ich auch als 14 jähriger auf rotten-dot-com geklickt hab.