Mitternacht war längst vorüber, da nahm Ancillo Canepa in der Lobby des vornehmen Mailänder Hotels Melia Platz auf einer auf Hochglanz polierten alten Vespa. Er hatte seine Pfeife im Mund, er strahlte, und seine Augen glänzten – fast noch mehr als das ur-italienische Gefährt, auf dem er sass.
Wenige Stunden zuvor hatte sein FC Zürich den grössten Sieg seit der Qualifikation für die Halbfinals im Meistercup 1977 gefeiert. Und jetzt sagte der Zürcher Präsident nach diesem 1:0 in der Champions League auswärts gegen Milan: «Das war die Antwort auf alles. Jetzt haben wir wieder Boden unter den Füssen.»
Canepa sprach so, weil die Zürcher zwei Tage zuvor mit einem grossen Koffer voll Sorgen nach Italien gereist waren. Der amtierende Schweizer Meister war nach zwei Niederlagen in der Super League gegen die Young Boys und Neuchâtel Xamax in die Krise gerutscht. Der Zirkus wirke irgendwie abgetakelt, hatte die NZZ geschrieben.
Doch dann wuchs der FCZ ausgerechnet bei einer der grösseren Aufgaben der gesamten Saison über sich hinaus. Man habe den Alltag an diesem Abend hinter sich gelassen, sagte später der damalige FCZ-Sportchef Fredy Bickel. Also spielten die Zürcher im Mailänder Giuseppe Meazza, wo sie ein Jahr zuvor im UEFA-Cup noch chancenlos geblieben waren, wie in den Ferien: Losgelöst von jeder Anspannung, bereit, etwas Aussergewöhnliches zu erleben.
Und aussergewöhnlich war tatsächlich alles an diesem Abend. Das Resultat, natürlich. Aber auch die Art und Weise, wie es zustande kam. Das entscheidende Tor schoss Verteidiger Hannu Tihinen. Schon in der 10. Minute und mit dem Absatz – so, als wären sogar «Künstler wie Roberto Mancini, Zlatan Ibrahimovic oder Gianfranco Zola neidisch auf ihn», schrieb die «Gazzetta dello Sport» am Tag danach.
In Abwesenheit der verletzten Kreativspieler Eric Hassli und Yassine Chikhaoui und mit Stars wie Andrea Pirlo, Clarence Seedorf oder Ronaldinho auf der Gegenseite sorgte ausgerechnet Tihinen, der «barbarische Finne» (Gazzetta dello Sport) für den Glanzpunkt, für ein Tor, das es «in die Top Ten der Champions-League-Saison» schaffen würde, wie FCZ-Captain Silvan Aegerter prophezeite. «Dieses Tor war schlicht Weltklasse», kommentierte Canepa.
Zum zweiten Zürcher Matchwinner avancierte Torhüter Johnny Leoni. Ausgerechnet er, hätte man auch über ihn sagen können. Zwei Wochen zuvor im Heimspiel gegen Real Madrid hatte Leoni mehrere haltbare Gegentore kassiert. Der «Blick» machte ihn darauf zum «Johnny Depp». Nach dem Spiel gegen Milan war Leoni auf dem Boulevard dann «Johnny Cash». Schliesslich kassierte der FCZ dank den Paraden von Leoni für diesen Sieg 1,2 Millionen Franken Prämie von der UEFA.
Tihinens Tor mit dem Absatz, Leonis Paraden gegen Filippo Inzaghi, der Zürcher Auswärtssieg gegen den siebenfachen Champions-League-Sieger Milan. Sie blieben als schöne Erinnerungen zurück, waren letztlich aber wie ein Ferienflirt, der nicht zu einer Alltagsbeziehung führte.
Nachdem Canepa von der Vespa gestiegen war und sich zur entspannten Runde mit Journalisten und Edel-Fans an die Hotelbar zurückgezogen hatte, sagte SRF-Experte Gilbert Gress: «Das war nur ein Sieg in einer Schlacht. Aber die Toten zählt man erst nach dem Krieg.»
Das Orakel aus dem Elsass sollte Recht behalten. Der Alltag holte den FCZ nämlich schnell ein. Vier Tage nach dem Erfolg gegen Milan verloren die Zürcher in der Meisterschaft gegen Bellinzona. In der Champions League holten sie aus den restlichen vier Spielen nur noch einen Punkt und schieden als Gruppenletzte aus.
Die Saison in der Super League beendete der FCZ auf dem 7. Platz und Meistertrainer Bernard Challandes wurde entlassen – nur ein halbes Jahr nach dem legendären Mailänder Abend. (dab/sda)