Silvano Beltrametti, in einer Woche beginnen die Olympischen Spiele. Wie nahe verfolgen Sie den Skisport noch?
Silvano Beltrametti: Ich werde den Skisport mein Leben lang im Herzen tragen. Deshalb bin ich immer noch sehr interessiert. Durch die Arbeit als Hotelier liegt es aber nicht mehr drin, jedes Rennen zu verfolgen. Für die grossen Klassiker wie Wengen oder Kitzbühel nehme ich mir aber die Zeit. Und natürlich auch für die Olympischen Spiele.
Das erste Highlight ist die Männer-Abfahrt in der Nacht auf Sonntag. Schauen Sie um 3 Uhr live am TV?
Es hängt davon ab, wie streng der Abend im Hotelbetrieb ist und wann ich ins Bett komme. Wenn möglich, werde ich aufstehen. Olympische Spiele waren für mich als Spitzensportler immer ein Traum, den ich mir leider nicht erfüllen konnte. Aber das olympische Feuer brennt noch in mir.
Wer gewinnt die Abfahrt?
Wir haben starke Schweizer am Start. In erster Linie Beat Feuz. Er hat sicher die Fähigkeiten, um zu gewinnen. Ich stehe aus familiären Gründen Mauro Caviezel nah. Auch er hat das Zeug dazu, eine Fahrt rauszulassen, bei der im Ziel die 1 aufleuchtet. Wieso nicht bei Olympia? Es gab bei Grossanlässen immer wieder Überraschungssieger. Bei uns würden auf jeden Fall die Champagner-Korken knallen.
Beat Feuz gilt als Naturbursche und Instinkt-Skifahrer. Das erinnert mich ein wenig an Silvano Beltrametti?
Jein! Beat Feuz ist ein absolutes Supertalent, wie er seine Stärken im Rennen ausspielen kann. Ich war auch ein Athlet, der sich im Wettkampf steigern konnte. Aber auch ein Fahrer, der den Weg über enorm hartes Training gesehen und gewählt hat, um an die Spitze zu kommen. Ich war als junger Athlet immer der, welcher im Training etwas mehr als die anderen gemacht hat. Hier hinkt der Vergleich zu Beat.
Ihr Unfall bei der Abfahrt in Val d’Isère war zwei Monate vor den Olympischen Spielen 2002 in Salt Lake City. Bedauern Sie es, als Sportler Olympia nie erlebt zu haben?
Ja, klar. Schade! Aber das Schicksal hat bei mir eingeschlagen und ich musste nach diesem 8. Dezember 2001 einen anderen Weg im Leben gehen. Ich habe auch diesen Weg akzeptiert und bin heute wieder glücklich mitten im Leben drin. Ich habe die Lebensfreude nach dem Unfall zurückgewonnen.
Also keine Wehmut?
Würde ich ein zweites Mal leben, dann wäre ich wahrscheinlich bei den Olympischen Spielen dabei und würde zeigen, was ich draufhabe. Es war tatsächlich ein Jugendtraum von mir und es ist damals schon ziemlich viel zerplatzt. Ich habe sehr viel getan für Salt Lake City, wäre bereit gewesen für die Olympischen Spiele. Hermann Maier und Stephan Eberharter haben auch gespürt, dass da ein Junger kommt, der ihnen das Leben schwermachen kann. Die Abfahrt wäre auf mich zugeschnitten gewesen. Bei der Hauptprobe ein Jahr zuvor, als das Rennen abgesagt werden musste, gewann ich das Abschlusstraining. Ein bisschen Wehmut ist also da. Aber so spielt das Leben
Sie hätten sich den olympischen Traum mit einer Teilnahme an den Paralympics erfüllen können?
Ja, das hätte ich tun können. Aber dafür wäre sehr viel Training notwendig gewesen. Ich fahre noch immer im Winter Monoski-Bob und im Sommer Handbike. Aber nur als Hobby und für mein Gemüt. Nach dem Unfall war für mich schnell klar, dass ich nicht zurück in den Leistungssport will. Es war für mich auch irgendwie eine Antwort darauf, dass das Schicksal eingeschlagen hat, mir der Herrgott da oben einen Rucksack zum Tragen gegeben hat und mit mir einen anderen Plan hat als jenen des Spitzensportlers.
Mussten Sie sich nach Ihrem Unfall neu erfinden?
Für mich hat es nach dem Unfall eine sehr grosse Veränderung gegeben. Ich musste bei null anfangen, mein ganzes Leben wieder neu ordnen. Wie ein kleines Kind lernen, den ganzen Tag hindurch die Selbstständigkeit zurückzuerlangen. Aber auch lernen, mich beruflich neu zu orientieren und meine Hobbys neu aufzubauen. Veränderung heisst auch loslassen vom Alten. Neue Visionen und neue Ziele finden und keine Angst davor zu haben, einen neuen Weg zu gehen. Ich glaube, das ist mir sehr gut gelungen
16 Jahre nach dem Unfall, gibt es noch Momente des Selbstmitleids?
Es gibt Momente, in denen man traurig ist und man sich fragt, wieso gerade ich? Es sind Situationen, in denen man spürt, dass man behindert ist und im Rollstuhl sitzt. Ich kann aber mit diesen Momenten gut umgehen und diese Gedanken ziemlich schnell wieder weglegen. Ich hadere nicht mit dem Schicksal, sondern mache etwas daraus.
Auch in dieser Saison wurde die Skifamilie von zwei Schicksalsschlägen getroffen. Der französische Abfahrer David Poisson und der deutsche Nachwuchsfahrer Max Burkhart starben auf der Rennpiste. Kommen bei Ihnen da speziell intensive Gefühle auf?
Das trifft mich schon und es tut brutal weh. Ich kann natürlich genau in das hineinfühlen. Ich bin dankbar, dass es bei mir nicht ganz so weit gegangen ist. Ich bin zwar querschnittgelähmt, aber ich habe überlebt. Und so ist dieser 8. Dezember 2001 für mich Jahr für Jahr zu einem zweiten Geburtstag geworden. Wenn jemand so jung im Sport sein Leben lassen muss, dann schmerzt dies. Aber auch das ist wieder der Ursprung des Lebens. Man kann beim Autofahren verunglücken, man kann im Sport oder im Büro verunglücken. Ich glaube, man muss es einfach akzeptieren und die Sportler selber müssen es verdrängen.
Burkhart ist auf einer Weltcuppiste verunglückt, obwohl man in den vergangenen Jahren viel in die Sicherheit investiert hat. Ist ein solcher Unfall ganz einfach Schicksal?
Es ist für mich sehr schwer, hier eine konkrete Aussage zu machen. War es Schicksal oder passte etwas punkto Sicherheit nicht? Man wird nie eine Antwort erhalten. Ich selber habe auch nie eine erhalten. Für mich sind es sehr, sehr viele Zufälle, die an einem solchen Tag zusammenspielen. Vielleicht ist es einfacher, mit so etwas umzugehen, wenn man irgendwie loslassen kann und es Schicksal nennt, vielleicht ist da oben einer im Himmel, der jemanden auch wieder aus dem Leben nimmt.
Sie sprechen Gott an. Waren Sie schon vor Ihrem Unfall gläubig?
Ja, ich bin ein gläubiger Mensch. Aber keiner, der jede Woche in die Kirche muss, um zu zeigen, dass er gläubig ist. Ich habe immer wieder auch im mentalen Bereich draussen in der Natur Gespräche geführt und hatte das Gefühl, mir hört jemand zu. Ich habe auch nach Wettkämpfen die Faust geballt, zum Himmel hochgeschaut und «danke» gesagt. Doch ich sagte auch: «Danke, aber gefahren bin ich selber». Es ist ein Glaube, dass mich jemand führt und mir hilft, aber ich es letztlich selber in der Hand habe.
Wie weit sind Sie im Leben noch immer Sportler?
Ich bin in meinem Herzen ein Sportler geblieben. Der Sport hat mich auch in diesen Momenten geprägt, wenn man das Gefühl hat, es nicht mehr zu packen. Dann kommt der Sportler hervor und sagt: «Jetzt erst recht!» Diese Eigenschaft sowie Ziele und Visionen zu haben, mit Rückschlägen und Niederlagen umgehen zu können, im wichtigsten Moment und unter enormer Erwartungshaltung die bestmögliche Leistung abzurufen, sind alles Komponenten, die ich im Sport gelernt habe und heute immer noch nutzen kann.
Wie oft sieht man Sie mit dem Monoski-Bob auf der Piste?
Leider zu wenig. Ich brauche den Sport, aber komme während der Saison nur rund zehn bis zwölf Tage auf die Ski, weil ich beruflich voll im Tourismus engagiert bin. Einen Schneesporttag mit Freunden zu geniessen, gibt mir enorm viel Energie. Es ist eine schöne Sache, dass ich als Querschnittgelähmter eine Sportart zusammen mit Freunden ausüben kann, die Fussgänger sind.
Wie viel Risiko nehmen Sie heute auf der Piste noch auf sich?
Man wird älter und hier und dort ein wenig vernünftiger. In den ersten Jahren mit dem Monoski-Bob wollte ich unbedingt auch die schwarzen Pisten runter. Zwischendurch brauche ich auch heute noch den Kitzel. Ich bin natürlich nicht zufrieden, wenn ich mein Niveau zwischen November und März nicht halten kann. Aber ich sehe die Konsequenzen von Verletzungen bewusster als früher. Eine Schulter- oder Armverletzung würde mich enorm einschränken. Diesen Preis bin ich nicht bereit zu bezahlen.
Nochmals zurück zu den Olympischen Spielen. Der Vision «Sion 2026» bläst ein rauer Wind entgegen. Wieso tut sich die Schweiz mit diesem Anlass so schwer?
Auch das ist für mich schmerzhaft. Ich sehe, was der Sport und was Grossveranstaltungen uns bringen. Deshalb bin ich ein absoluter Befürworter von Olympischen Winterspielen in der Schweiz. Mit dem Gigantismus der letzten Jahre bleibt aber vielen Leuten in den Köpfen hängen, dass es viel zu viel Geld kostet
Was bringen die Spiele der Schweiz?
Der erste Punkt ist der gesellschaftliche Nutzen – zusammen hinstehen und etwas anpacken. Ein gemeinsames Grossprojekt stemmen ist auch für verschiedene Bergregionen enorm lehrreich. Ich sehe hier in Lenzerheide ja aus nächster Nähe, was alleine das Weltcupfinale im Ski alpin ausgelöst hat. Zweiter Punkt ist die Wirtschaftlichkeit und das Marketing. Die Schweizer Bergregionen leben vom Tourismus und vom Wintersport. Wir müssen uns verkaufen und der Welt zeigen, welche Möglichkeiten und welche Kompetenz auf höchstem Niveau die Schweiz hat und dass wir eine Infrastruktur auf Topniveau präsentieren können. Olympische Spiele sind ein Treiber, der uns ermöglicht, mit Visionen und Innovation gegenüber der Konkurrenz einen Schritt voraus zu sein.