Die WM 2022 findet in Katar statt. Wenn wir Sie damals bei der Vergabe 2010 gefragt hätten: Ist das eine gute Idee? Was hätten Sie geantwortet?
Manuel Akanji: «Nein!», hätte meine Antwort gelautet. Für mich ist eine WM in Katar nicht sinnvoll. Aber wir haben uns den Austragungsort als Mannschaft nicht ausgesucht.
Vor der WM gab es immer wieder Stimmen, die den WM-Boykott forderten. Und an die Fussballer wird die Erwartung herangetragen, dass man diese WM kritisieren und auf die Missstände aufmerksam machen müsse. Weil die Stimme der Fussballer so viel Gewicht hat. Ist diese Erwartung gerechtfertigt? Oder hätten das die Verbände zusammen mit der Politik früher erledigen müssen?
Da würde ich gerne differenzieren. Ich glaube, es ist zu spät, kurz vor dem Turnier etwas zu unternehmen. Ich weiss nicht, ob es noch gross geholfen hätte, einen Monat vor der WM den Boykott auszurufen. Man hätte damals, 2010, als die WM vergeben wurde, eingreifen müssen.
Wie hätte das aussehen sollen?
Alle Verbände hätten sich zusammenschliessen und sagen sollen, dass man eine WM in Katar nicht unterstützt. Eine WM im Winter, das gab es noch nie. Und ja, die Zustände in diesem Land, man konnte nicht alles voraussehen, aber man hätte definitiv etwas unternehmen sollen. Allerdings vor der Qualifikation für die WM. Zeit wäre genug da gewesen. Schlussendlich bin ich in einem Mannschaftssport. Ich spiele nicht Tennis, wo ich sagen könnte: Nein, das Turnier in Doha bestreite ich nicht. Ich spiele mit der Nati, um das eigene Land zu vertreten. Ich bin ein Teamspieler und habe mich dafür entschieden, meine Mannschaft zu unterstützen.
Die Schweiz trifft auf Kamerun, Brasilien und Serbien – was sind Ihre Gedanken zu dieser Gruppe?
Wenn ich die anderen Gruppen anschaue, dann stelle ich fest: das ist eine der herausforderndsten Gruppen dieser WM. Ich finde es ein bisschen schade, dass wir wieder auf zwei Mannschaften treffen, die wir bereits von der WM 2018 her kennen. An einer WM würde ich gerne gegen verschiedene, unbekannte Gegner spielen. Darum freue ich mich sehr auf die Begegnung mit Kamerun, ich habe, wenn ich mich nicht täusche, noch gar nie in einem Ernstkampf gegen eine afrikanische Mannschaft gespielt. Alles in allem denke ich, dass wir wie schon 2018 fähig sind, weiterzukommen.
Granit Xhaka sagte: «Ich will jedes Spiel gewinnen und Weltmeister werden.» Xherdan Shaqiri sagte: «Immer schön die Füsse auf dem Boden halten – zuerst irgendwie die Gruppe überstehen, dann können wir immer noch weiterschauen.» Was sagen Sie?
Ich glaube, wenn wir die Gruppe erfolgreich bestehen, dann ist sehr vieles möglich für uns. Ich halte sehr viel von unserer Mannschaft, wir können mit jeder Nation mithalten, das haben wir in der Vergangenheit gezeigt. Wir haben zwar die Spiele nicht immer gewonnen, aber wir waren oft auf Augenhöhe. Natürlich kommt es auch aufs Losglück und die Tagesform an – wie immer, wenn sich alles in einem Spiel entscheidet. Aber ja, ich traue uns vieles zu. Ob es dann grad der WM-Titel wird, weiss ich nicht, das werden wir sehen. (lacht)
Wenn Sie tippen müssten: Wer wird Weltmeister?
Das habe ich mir kürzlich auch überlegt. Eine schnelle, direkte Antwort ist mir nicht in den Sinn gekommen. Nach einigem Überlegen komme ich zum Schluss: Der grösste Favorit heisst Brasilien.
Zuletzt hat die Schweiz in der Nations League mit Portugal und Spanien gleich zwei grosse Gegner besiegt. Wie sehr hat das dazu beigetragen, dass die Nati mit noch mehr Selbstvertrauen unterwegs ist?
Das hilft natürlich sehr. Man kann an Erfolge der unmittelbaren Vergangenheit denken. Oder auch an jene bei der EM. Das Wissen, den Weltmeister Frankreich ausgeschaltet zu haben und danach auch im Viertelfinal gegen Spanien ein gutes Spiel gezeigt zu haben, das ist sehr viel wert. Aber eines muss man sich trotzdem bewusst sein: Die WM wird ein neues Turnier. Alle sind in einer anderen Form als im September oder vor eineinhalb Jahren an der EM. Es ist eine neue Ausgangslage.
Wird das Spiel gegen Kamerun schon wegweisend?
Nicht unbedingt. Aber es ist zweifellos so, dass drei Punkte in diesem Spiel helfen würden. Wenn wir es nicht gewinnen, wird das Weiterkommen schwieriger – aber nicht unmöglich.
Im Herbst 2021 haben Sie uns erzählt: «Irgendwann werde ich mir diesen Sieg im EM-Achtelfinal gegen Frankreich noch einmal in voller Länge anschauen und die ganzen Emotionen geniessen.» Sind Sie schon dazugekommen?
Nein, noch nicht. Es ist tatsächlich langsam Zeit dafür. Warum nicht als Inspiration während der WM? Das wäre eine gute Idee und würde viele tolle Gefühle fürs Turnier bringen.
Wo steht die Schweizer Nationalmannschaft in ihrer Entwicklung verglichen mit der WM 2018?
Ich denke, wir sind noch einmal einen Schritt weitergekommen. Als Mannschaft noch einmal zusammengewachsen. Wir haben eine gute Einheit. Zudem bin ich überzeugt, dass der Schritt in den Viertelfinal an der EM vieles ausgelöst hat. Nicht nur bei uns, sondern auch bei den Fans. So etwas wie an der EM 2021 habe ich noch nie erlebt. Ich finde, es ist nochmals eine grössere Nähe da zwischen Fans und Mannschaft. Viele in der Schweiz trauen uns jetzt noch mehr zu. Das bringt natürlich auch mehr Druck mit sich. Aber wir sind im Leistungssport, ich habe den Druck gerne. Ich weiss, dass wir das können. Jetzt müssen wir es auf dem Feld auch zeigen.
Wenn Sie sagen, man traut dieser Mannschaft noch mehr zu, wie viel hat das dann mit dem neuen Trainer Murat Yakin zu tun und mit den ersten Erfahrungen – etwa dass es gelungen ist, in der WM-Qualifikation Italien hinter sich zu lassen?
Das ist schwierig zu beurteilen. Es wird für ihn das erste grosse Turnier als Nati-Trainer, dazu ist es direkt eine WM, die anders wird als jedes andere grosse Turnier zuvor, im Winter, in Katar, phuuu, mal schauen, was uns da erwartet. Es ist anders für uns alle. Aber schlussendlich ist es doch eine WM, und es gibt für keinen Fussballer etwas Grösseres als für das eigene Land den WM-Titel zu gewinnen.
Welche Fortschritte hat die Nati unter Yakin gemacht?
Das ist nicht einfach zu beschreiben. Es sind ein paar kleine Sachen, die sich verändert haben. Muri legt ein bisschen mehr Wert auf Teambuilding, dass wir gut untereinander klarkommen. Für mich als Spieler hat sich gar nicht vieles verändert. Ich selbst nehme mich aber schon so wahr, dass ich noch einmal in einer anderen, besseren Form anreise als unter Petkovic damals. Ich versuche nochmals mehr Verantwortung zu übernehmen, die Mannschaft zu leiten.
Von aussen hat man das Gefühl: Die defensive Organisation ist bei Ballbesitz des Gegners besser geworden.
Das kann gut sein. Wir bekommen tatsächlich nicht sehr viele Gegentore. Wir wissen eben auch, dass wir gegen ein Topteam selten vier Tore schiessen, darum müssen wir viel verteidigen, viel laufen. Das haben wir durch die Erfahrung gelernt gegen Top-Nationen, jeder Fehler wird sofort bestraft, wir müssen sehr konsequent sein und unsere wenigen Chancen nutzen.
Sie haben im Sommer kurz vor Transferschluss von Borussia Dortmund zu Manchester City gewechselt. Wie verliefen die letzten Tage davor?
Das erste Mal von City gehört habe ich Ende August, am Wochenende vor dem Transferschluss. Erling Haaland (ehemaliger Teamkollege in Dortmund, d.Red.) hat mir geschrieben, er hörte, dass es Interesse gebe, mich zu verpflichten, denn sie hätten bei ihm ein paar Infos über mich eingeholt. Zunächst dachte ich: ‹Ok, ich bin wohl einer von drei oder fünf Spielern, die zur Auswahl stehen›. Als aber mein Berater das Interesse bestätigte, wusste ich, es gilt ernst. Danach wurden die Verhandlungen zwischen der sportlichen Leitung von Manchester City und meinem Berater sowie dem BVB aufgenommen - und ab dann ging alles sehr schnell. Ich bin froh darum, dass der Wechsel so über die Bühne gegangen ist, und nicht alles wochenlang ein Thema in den Medien war.
Sie haben ein gesundes Selbstvertrauen, Sie sagten: «Ja, ich kann das bei City.» Trotzdem: Dass Sie so regelmässig spielen, hat das sogar Ihre hohen Erwartungen noch übertroffen?
Ich habe es mir zugetraut. Aber ich wusste nicht: Wie denkt der Trainer? Wie denkt der Verein? Wir haben viele gute Spieler. Ich habe es mir zugetraut. Aber wenn ich hätte wetten müssen, dann hätte ich nicht darauf getippt, dass ich schon so viele Einsätze bekomme gleich zu Beginn. Ich bin aber sehr froh, dass der Verein mir das zutraut. Und ich denke, ich habe das auch mit Leistung zurückzahlen können.
Trainer Pep Guardiola war sehr schnell sehr angetan von ihnen. Er sagte: «Der Junge ist ein Geschenk. Es war eine sensationelle Entscheidung, ihn zu verpflichten. Es gibt Spieler, denen musst du zehnmal erklären, was du von ihnen willst. Dieser Typ ist anders, er brauchte nur eine Trainingseinheit. Man muss es ihm nur erklären und er versteht es sofort.» Was löst eine solche Lobeshymne aus?
Das freut mich natürlich sehr, wenn man solche Worte hört vom eigenen Trainer. Aber für mich ist es auch entscheidend, was er im direkten Austausch mit mir sagt. Wie ich besser werden kann. Was er dort für positive Sachen sagt zu mir.
Was sagt er Ihnen denn direkt? Ist er im persönlichen Gespräch kritischer? Oder vielleicht nüchterner?
Ja, das würde ich schon sagen. Schliesslich muss man als Trainer immer auch die richtige Balance finden. Und ich glaube, es wäre auch nicht gut, wenn er – im Bezug auf mich – immer loben würde. Es gibt noch viele Dinge, die ich lernen kann. So fordert er mich auch stets.
Bekommen Sie zu Hause auch so viel Lob von Ihrer Frau wie von Pep Guardiola?
Klar werde ich von meiner Frau oft gelobt, auch wenn gerade jetzt viel los ist zu Hause mit zwei Jungs, und ich sie arbeitsbedingt nicht immer so stark unterstützen kann, Melanie macht einen super Job. Es ist ja immer volle Action, es wird viel Fussball oder Tennis gespielt. Keeyan, der Jüngere, ist natürlich noch viel ruhiger, seine Motorik ist in diesem Alter noch nicht so ausgeprägt wie die von Aayden. Auch wenn es manchmal eine Herausforderung ist, kann ich mir nichts Schöneres vorstellen als Papa von Aayden und Keeyan zu sein.
Wie müssen wir uns das vorstellen? Sie spielen Tennis im Wohnzimmer über ein Karton-Netz?
Wir haben tatsächlich ein Spielzimmer, mit vielen verschiedenen Bällen drin. Und kleine Tore, die wir im Internet bestellt haben. Wir spielen viel Fussball, ich mit Aayden hauptsächlich, aber meine Frau spielt auch gerne und lässt es sich nicht nehmen, mit ihm zu kicken. Einen American Football, einen Basketball und Beachball-Schläger haben wir auch noch in diesem Spielzimmer.
Das tönt nach einer vielseitigen sportlichen Ausbildung für die Jungmannschaft.
So ist es! Eines ist mir besonders wichtig: Sie sollen machen, was ihnen Spass macht. (aargauerzeitung.ch)