Schweizer Nati: «Man spürt, dass Kobel darauf drängt, bald die Nummer 1 zu werden»
Yann Sommer wechselt von Bayern München zu Inter Mailand – wie erleichtert ist der Torhütertrainer der Nati
Patrick Foletti: Ich habe mich unheimlich gefreut für Yann. Es war kein einfacher Transfer. Umso schöner, dass er geklappt hat. Er ist wieder in einem Topverein, in einer Top-5-Liga, er wird europäisch spielen können. Und das Wichtigste: Er ist bei Inter Mailand in einem Verein untergekommen, wo er erste Priorität ist. Trainer Simone Inzaghi wollte ihn unbedingt, der Torhütertrainer wollte ihn unbedingt. Ich bin froh, dass er nun Ruhe hat und die Sicherheit, wie seine Zukunft aussieht.
Haben Sie ihm dazu geraten, Bayern München zu verlassen?
Als das Interesse von Inter Mailand aufkam und sich herauskristallisierte, dass er spielen kann, sagt ich ihm: «Mach das!» Aus verschiedensten Gründen. Erstens: Es ist ein Vorteil, bei einem Verein zu sein, wo die Rolle der Nummer 1 klar zugeteilt ist. Der Fussball von Inter ist auf Yann zugeschnitten. Dazu kommt: die Ungewissheit, was bei Bayern München genau passiert, wäre schon ziemlich gross gewesen. Das sieht man nun auch im Nachhinein. Darum sagte ich Yann: «Wenn es wirklich konkret ist, pack deine sieben Sachen und gehe!»
Wie beurteilen Sie die Leistungen von Sommer bei Bayern München im vergangenen halben Jahr?
Durchaus positiv. Das tönt jetzt im ersten Moment vielleicht übertrieben. Aber wenn ich die Situation als Ganzes anschaue und das Theater miteinbeziehe, das bei Bayern München Woche für Woche herrschte (Red., unter anderem die Entlassung von Trainer Nagelsmann, der Machtkampf der Ex-Bosse Kahn und Salihamidžić) dann bleibe ich dabei: Es war ein positives halbes Jahr für Yann. Seine Leistungen waren nicht immer top, das ist klar und das weiss Yann auch selbst. Er hatte seine Schwierigkeiten, er hat gewackelt – aber er ist nicht gefallen. Und das bei diesem unglaublichen Druck, den sich kein Mensch vorstellen kann. Das rechne ich ihm sehr hoch an.
Trotzdem: Sind Sie einverstanden mit der Beurteilung, dass Yann Sommer nicht dieselbe Ausstrahlung und nicht dasselbe Selbstverständnis hatte wie zuvor jahrelang?Wenn man das Bild von Yann Sommer im Juni 2023 vergleicht mit jenem des Januars 2023, dann gab es gewisse Unterschiede, das ist offensichtlich und allen klar. Aber nochmals: Die Situation ist eine komplett andere. Ich komme zurück auf die Umstände bei den Bayern. Wer diese miteinbezieht, kommt zum Schluss: Yann hat trotzdem ein gutes Bild abgegeben.
Nach Sommers Wechsel zu Inter: Wie sieht die Hierarchie in der Nati aus?
Stand jetzt hat sich zu Beginn der neuen Saison nichts geändert. Yann Sommer ist die Nummer 1, Gregor Kobel die Nummer 2, Jonas Omlin die Nummer 3. Aber es dauert noch fast ein Jahr, bis die EM 2024 beginnt – das ist eine verdammt lange Zeit. Zunächst einmal müssen wir uns für die EM qualifizieren. Alle gehen davon aus, dass es ein Spaziergang wird, aber wir müssen im September in den Kosovo, das wird ein schwieriges Spiel. Die Sache ist noch nicht gegessen. Aber auch wir gehen davon aus, dass wir die Qualifikation meistern werden. Und wer dann an der EM wirklich im Tor steht, kann niemand voraussagen. Die jüngste Vergangenheit hat gezeigt, dass es nicht wirklich gut ist, zu viel zu planen. Wir haben die komfortable, für mich aber teilweise unangenehme Situation, dass wir fünf super Schweizer Torhüter haben – im Grunde genommen könnte ich die Augen schliessen, zufällig auf jemanden zeigen, sagen: «Du spielst heute» und ich wäre gleichwohl entspannt, egal wie die Wahl ausfällt.
Wie nehmen Sie Gregor Kobel wahr?
Man spürt, dass er darauf drängt, bald die Nummer 1 zu werden. Das ist so. Und das erwarte ich auch von Gregor Kobel. Aber dasselbe erwarte ich auch von Jonas Omlin, Yvon Mvogo oder Philipp Köhn. Die Jungs können allesamt die Nummer 1 der Schweiz sein. Gregor ist vom Charakter her derjenige, der seine Vorstellungen und Wünsche etwas klarer formuliert als alle anderen. Ich erwarte nichts anderes als den absoluten Willen, das Maximum für sich herauszuholen. Gleichzeitig erwarte ich auch, dass wenn eine Entscheidung einmal steht, die anderen Jungs die Rolle, die sie erhalten, annehmen können und sich in den Dienst der Mannschaft stellen.
Wäre es im Rückblick der richtige Zeitpunkt gewesen, Gregor Kobel nach der WM in Katar zur neuen Nummer 1 zu machen?
Wer so denkt, schaut nur auf den Moment. Ja, die WM 2022 von Yann Sommer war verhältnismässig durchzogen, bei allen widrigen Umständen, die Verletzung vor dem Turnier, die Krankheit während des Turniers. Und dann sehen viele Leute nur die 1:6-Klatsche gegen Portugal und stellen alles infrage. Aber: Es ist ein Prozess, die Nummer 1 einer Nation zu werden, das funktioniert nicht von heute auf morgen. Vor allem bei einem Torhüter ist das ein sehr langer Prozess. In dem Prozess befinden sich die Jungs hinter Yann momentan. Aber sie sind noch nicht angekommen am Ziel. Das heisst: Es liegt an ihnen, Geduld zu wahren und gleichzeitig weiter Gas zu geben. Irgendwann wird es zur Ablösung von Yann Sommer kommen, aber nach Katar wäre nicht der richtige Zeitpunkt gewesen.
War für Yann Sommer selbst immer klar, dass er als Nati-Torhüter weitermacht? Oder hat er überlegt, ob die Zeit für einen Rücktritt gekommen ist?
Ich sehe nicht zu 100 Prozent in seinen Kopf. Aber aus meiner Wahrnehmung, aus den Gesprächen mit Yann, schon vor Katar, während Katar, nach Katar und auch zuletzt im Juni hatte ich nie das Gefühl, dass ihm der Rücktrittsgedanke durch den Kopf schwirrt. Er ist sehr fokussiert. Er fühlt sich gut. Er hat die Vision EM 2024 in Deutschland klar präsent.
Zurück zu Gregor Kobel. Er wurde zum besten Bundesliga-Torhüter der letzten Saison gewählt. Er strahlt mit seinen 25 Jahren bereits eine enorme Reife aus – haben Sie das schon einmal erlebt bei einem Schweizer Torhüter?
Diego Benaglio war mit 25 Jahren auch schon sehr weit, führte Wolfsburg zum Titel in der Bundesliga. Sommer war auch bereits mit 25 eine grosse Persönlichkeit. Sicher, Gregor Kobel hat eine enorme Präsenz, schon alleine durch seine Statur. Das wird dann vielleicht von der breiten Öffentlichkeit auch ein bisschen mehr wahrgenommen.
Sie haben vorhin Jonas Omlin erwähnt. Ein halbes Jahr nach seinem Transfer zu Mönchengladbach ist er bereits Captain. Fliegt er zu sehr unter dem Radar?
Gut möglich. Jonas hat ein anderes Profil. Wenn ich das sage, dann rede ich vom Menschen Jonas Omlin. Er drängt nicht in den Vordergrund, steht lieber im Hintergrund. Und er ist weniger laut als andere. Von seinen fussballerischen und menschlichen Fähigkeiten her überrascht mich die Captain-Wahl gar nicht. Er hat in Mönchengladbach innert kürzester Zeit unglaublich viel Energie freigesetzt. Das hat dem Verein imponiert. Ich kenne den Klub sehr gut, bin mit vielen Leuten in ständigem Kontakt. Jonas hat die Lücke, die Yann nach acht Jahren hinterlassen hat, sofort geschlossen.
Bei aller Begeisterung, die Schweizer Torhüter in Deutschland auslösen, fällt eines eben auch auf: Keiner spielt in der Premier League. Warum ist das so?
Das ist eine gute Frage. Es hat sicher kulturelle Hintergründe. Für Schweizer Goalies ist die Bundesliga rein kulturell – geografisch und von der Sprache her – nahe liegender als England. Das ist auch gleichzeitig ein Grund, warum Bundesligisten eher auf den Schweizer Markt schauen. Es ist eine wechselseitige Beziehung. Es gab Schweizer, die ihr Glück in England versuchten, Benjamin Siegrist bei Aston Villa, Raphael Spiegel bei West Ham. So richtig geklappt hat es nicht. Vielleicht haben sie in England einfach noch nicht gecheckt, dass wir so gute Goalies haben (lacht). Spass beiseite: Ich schliesse nicht aus, dass einer unserer aktuellen Nati-Goalies früher oder später in England landen wird. Vom Profil könnte das beim einen oder anderen hervorragend passen. Die letzten Jahre waren von Yann geprägt. Und Yann hat nicht das Profil, das sie in England suchen. Ich kenne viele Vereine, die schauen gar niemanden an, der nicht mindestens 1,92 gross ist, egal wie gut der Torhüter ist.