Er schwamm fünf Weltrekorde, wurde dreifacher Weltmeister, als erster Schweizer überhaupt, stellte Europa- und Schweizer Rekorde auf, belegte Rang zwei bei der Wahl zum Sportler des Jahres 2024 hinter Marco Odermatt – Noè Ponti, der neue Schweizer Schwimmkönig, hat verrückte Monate hinter sich. Zwischen Ehrungen in der Tessiner Heimat und während der Rekrutenschule nahm sich der 23-Jährige Zeit, um über Euphorie, Enttäuschungen und Ziele zu sprechen.
Was geht in Ihnen vor, wenn Sie auf die letzten Monate seit den Olympischen Spielen in Paris zurückschauen?
Noè Ponti: Es waren gute zwei, drei Monate (schmunzelt). Nach Paris habe ich ziemlich lange pausiert und konnte mich gut erholen. Ich war auf Safari, habe den Kopf freibekommen und bin erst ziemlich spät, Ende September, wieder ins Training eingestiegen.
Und dann haben Sie im Herbst bei den drei Weltcup-Stationen in China, Korea und Singapur die Welt in Staunen versetzt ...
Nach dem Wiedereinstieg war die Motivation nicht so hoch, aber als die Wettkämpfe näher kamen, kehrte die Freude zurück. Ich spürte, wie gut ich in Form bin, war locker, entspannt und hatte Lust, zu schwimmen, ohne mir Druck zu machen. Und dann gelang mir auf Anhieb ein Europarekord und ich kam in eine Art Schwebezustand.
Haben Sie es für möglich gehalten, dass Sie Weltrekord schwimmen?
Es war schon eine Überraschung. Nicht unbedingt, dass es mir gelungen ist, sondern dass es so schnell ging. Es war schon seit einigen Jahren ein Fernziel, eine Vision von mir, Weltrekord zu schwimmen. Ich spürte, dass es im Herbst passieren könnte, weil ich mich mental frisch und körperlich sehr gut erholt gefühlt hatte.
Wie haben Sie diese drei intensiven Wettkämpfe in Asien erlebt?
Es war eine grossartige Erfahrung. Wir sind wie ein kleiner Zirkus von Stadt zu Stadt gezogen, wohnten in den gleichen Hotels, trainierten in den gleichen Becken. Es war eine ganz andere Stimmung als an Welt- oder Europameisterschaften, viel entspannter. Das hat mir wohl geholfen, locker zu bleiben und so schnell zu schwimmen.
Blieb zwischen den Rennen auch Zeit, die Städte zu erkunden?
Es heisst zwar immer, dass man in China aufpassen sollte, wenn man auswärts essen geht, aber ich habe es trotzdem getan (lacht). Ich bekam dann tatsächlich Probleme mit dem Magen. In Schanghai hatte ich während drei, vier Tagen einen richtig schlimmen Durchfall, also während der ganzen Wettkämpfe. In Korea konnte ich dann vier Tage nicht auf die Toilette. Das kann halt passieren, wenn man sich eine gewisse Ernährung nicht gewohnt ist. Ich habe einen empfindlichen Magen. Trotzdem bin ich danach ganz gut geschwommen (lacht).
Was sich auch finanziell gelohnt hat. Sie holten in knapp zwei Wochen 150'000 US-Dollar Preisgeld. Wie wichtig ist das für Ihre Karriere?
Es ist gutes Geld, klar, und tönt nach viel, auch wenn es verglichen mit anderen Sportarten nicht so viel ist und ich gewisse Reisen, Flüge und einen Teil meines medizinischen und sportlichen Umfelds damit bezahlen muss. Einen Teil nutze ich, um auf dem Haus meiner Eltern einen zusätzlichen dritten Stock mit separatem Eingang zu bauen. Und den Rest werde ich sparen.
Viele Sportlerinnen und Sportler erleben nach Olympischen Spielen ein emotionales Tief. Wie ist es Ihnen nach Paris ergangen?
Ähnlich. Mir fehlte die Motivation, der Antrieb, ein Ziel. Deswegen bin ich in die Ferien gegangen, nach Kenia. Es war sehr schön, aber ich war emotional stumpf, apathisch und fast teilnahmslos. Das war nicht einfach, obwohl ich darauf vorbereitet war.
Welche Rolle spielte es, dass Sie mit Rang 5 über 200 Meter Delfin und Rang 4 über 100 Meter Delfin die erhoffte Medaille verpasst haben?
Keine grosse. Ob du eine Medaille gewinnst oder nicht, macht keinen grossen Unterschied. Nach so grossen Ereignissen gibt es sowieso ein Loch. Natürlich, der vierte Platz war nicht so leicht zu verdauen. August und September waren nicht die einfachsten Monate meines Lebens. Ich brauchte diese längere Pause, um besser zu werden.
Wie haben Sie diese Emotionen 2021 nach ihrer Bronzemedaille in Tokio erlebt, die damals eine Überraschung war?
Sehr ähnlich, auch wenn das Tief danach später gekommen ist, weil ich noch für sechs Wochen in den USA an einem College war. Damals fehlte mir die Zeit, die Medaille und das neue Umfeld zu verarbeiten. Ich war überfordert und nahe an einem Burn-out.
In Paris haben Sie Bronze auch deshalb verpasst, weil der Kanadier Josh Liendo, der Zweiter geworden war, nicht disqualifiziert wurde, obwohl sein Anschlag womöglich nicht regelkonform war. Haben Sie seither mit ihm über diese Situation gesprochen?
Nein. Weder habe ich ihn seither gesehen, noch mich mit ihm darüber ausgetauscht. Ich weiss nicht, ob er diese Diskussionen mitbekommen hat. Er wurde Zweiter und nicht disqualifiziert, ich wurde Vierter. Es bringt nichts, über etwas zu sprechen, das in der Vergangenheit liegt. Und ausserdem verstehe ich mich wirklich sehr gut mit ihm. Ich will kein «Beef» mit ihm anfangen, das bringt niemandem etwas.
Wie stark haben Sie die Olympischen Spiele und die dort verpasste Medaille in den Wochen danach im Training noch beschäftigt?
Ich würde nicht sagen, dass ich mit der Wut im Bauch geschwommen bin, aber ich war sicher hungriger auf Erfolg, das auf jeden Fall.
Im Dezember schwammen Sie bei der Kurzbahn-WM in Budapest Weltrekord und wurden als erster Schweizer Schwimmer Weltmeister – und das gleich drei Mal. Haben Sie die Hymne mitgesungen?
Ja (lacht). Und zwar auf Deutsch!
Dank der Rekrutenschule!
Früher auf Italienisch ging das nicht, weil ich nur die erste Zeile konnte. Allerdings habe ich nur nach den Goldmedaillen über 50 Meter Delfin und 100 Meter Lagen mitgesungen. Bei den 100 Meter Delfin war ich emotional zu überwältigt, um noch zu singen.
Im November sind Sie in die Sport-RS eingerückt und sind noch bis im April im Dienst. Wie erleben Sie die Rekrutenschule?
Es ist okay (lacht). Es ist wirklich eine gute Lösung und ein Privileg, dass wir in der Schweiz eine solche Möglichkeit haben. Ich kann zwar nicht so viel trainieren, aber vor der WM konnte ich zum Beispiel für zehn Tage nach Hause, um mich optimal vorzubereiten. Als Schwimmer kann ich die letzten zweieinhalb Monate in Tenero absolvieren und bin deswegen zu Hause. Auch das ist natürlich ein grosser Vorteil.
Magenprobleme, weniger Training, Rekrutenschule – und trotzdem schwammen Sie zuletzt so schnell wie noch nie zuvor. Hand aufs Herz: Weshalb war das bei den Olympischen Spielen noch nicht möglich?
Natürlich wäre es schön gewesen, wenn ich in Paris gewonnen hätte. Das Problem war nicht das Training, sondern eher mein Kopf. Es gab ein paar Dinge, die nicht geklappt haben. Und dann auch noch einige, die ich nicht kontrollieren konnte und mein Privatleben betreffen. Körperlich war ich in Bestform, mental nicht. Jetzt gilt es, nach vorne zu schauen. Ich habe einiges gelernt und werde versuchen, meine Schlüsse daraus zu ziehen und einige Dinge zu verbessern.
Wissen Sie schon, wo Sie den Hebel ansetzten werden?
Wir müssen noch besprechen, was wir konkret verändern wollen. Aber das Ziel muss sein, dass ich im Juli und August in Topform bin, wenn die Langbahnweltmeisterschaften in Singapur stattfinden.
Eine Veränderung war der Wechsel von Locarno nach Uster, auch wenn Sie weiter im Tessin trainieren. Was erhoffen Sie sich davon?
Locarno war mein Klub, seit ich sechs Jahre alt war, aber ich trainiere schon seit 2019 nicht mehr dort, sondern in Tenero, und schwamm nur noch bei den Meisterschaften ab und zu für Locarno. Ich kenne den Trainer, Luca Marin, sehr, sehr gut. Unsere Verbindung ist aber nicht mehr so stark. Und niemand von meinen Freunden schwimmt noch in Locarno. Zudem denke ich, dass der neue Impuls hilft. Mit Uster kann ich auch in der Staffel um den Sieg mitschwimmen.
Wie haben Sie Weihnachten und Neujahr verbracht?
Nach der WM in Budapest war ich ein paar Tage zu Hause, danach mit Thomas Ceccon (Olympiasieger und Weltmeister aus Italien, Anm. d. Red.) ein paar Tage in Amsterdam. Weihnachten haben wir zu Hause im Tessin gefeiert. Und über Neujahr war ich mit meinen Eltern und einem Cousin acht Tage in New York. Das war ein magisches Erlebnis.
Wie haben Sie in dieser Zeit trainiert?
Gar nicht (lacht). Aber wir sind im Schnitt fast 20 Kilometer am Tag durch die Stadt gelaufen. Das ist auch nicht so schlecht.
Ab Ende Januar trainieren Sie wieder in St. Moritz. Fahren Sie eigentlich auch ab und zu Ski?
Nein. Erstens fehlt mir die Zeit, zweitens ist mir die Verletzungsgefahr zu gross. Wissen Sie, ich würde dann gerne sportlich fahren (lacht).
Wir fragen, weil Marco Odermatt derzeit zwar wohl der grösste Schweizer Sportstar ist, als Skifahrer aber einen Sport betreibt, der global betrachtet nicht so populär ist wie das Schwimmen. Würden Sie sich in der Schweiz manchmal mehr Wertschätzung wünschen?
Neben Leichtathletik ist Schwimmen zusammen mit Basketball die Sportart, die bei den Olympischen Spielen die grösste Beachtung fand. Das ist schon verrückt. In der Schweiz ist Skifahren Nationalsport und Marco ist der Beste. Ich verfolge die Skirennen auch sehr gerne – und Eishockey als Fan von Ambrì-Piotta. Ich hoffe, dass ich mithelfen kann, das Schwimmen in der Schweiz noch populärer zu machen.
Sie sind jetzt Weltmeister, Europameister, Weltrekordhalter. Damit bleibt Ihnen wohl nur noch ein Ziel: Olympiagold. Richtig?
Ziel ist es, die letzten Medaillen zu gewinnen, die mir noch fehlen. Bisher habe ich Medaillen von der Kurzbahn-EM, der Kurzbahn-WM und von Olympischen Spielen. Was noch fehlt, sind Medaillen bei der Langbahn-WM und -EM. Das ist das Ziel in den kommenden Jahren.
Und Olympiagold?
Das ist mein Traum. Weltrekorde wären aber auch schön (lacht).