Reden wir zu Beginn über eine Holzbank!
Vladimir Petkovic: Tönt spannend – ich habe viele Holzbänke erlebt in meiner Karriere. Geht es um jene am Fussballplatz von Malcantone Agno?
Nicht ganz. Ich denke zurück an Maribor. Dort haben Sie, im Oktober 2014, Ihr zweites Spiel als Nationaltrainer bestritten. Die Schweiz verlor gegen Slowenien 0:1. Aber am Tag danach, auf einer Holzbank am Waldrand haben Sie gesagt: Ich habe erkannt, die Spieler haben die «DNA» des Petkovic-Fussballs begriffen.
Richtig, wir waren vielleicht noch etwas naiv. Und wenn ich mich selbst analysiere im Rückblick, habe ich wohl etwas zu viel verändern wollen gleich zu Beginn meiner Amtszeit. Aber ich habe gesehen: Ja, die Spieler sind bereit, meinem Weg zu folgen.
Und nun frage ich mich: Vor zwei Wochen hat die Schweiz in Dänemark 0:1 verloren. Und trotzdem war es ein erfrischender Auftritt – ganz, wie Sie es sich wünschen. Haben Sie sich erinnert gefühlt an die Holzbank in Slowenien und die Zeit, als Sie die Schweiz übernahmen?
Gute Frage! Es gibt tatsächlich einige Parallelen. Wobei mir dieser Auftritt in Dänemark noch mehr Freude gemacht hat. Ich hatte danach viele positive Gedanken im Kopf. Wir waren gegen eine Mannschaft, die durchaus Weltklasse-Niveau hat, dominant und hatten viele Chancen. Aber ein halber Fehler hat gereicht, um das Spiel zu verlieren. Und da braucht es eben auch das Bewusstsein: Schöner Fussball ohne Tore bringt nichts.
Wie gelingt es Ihnen, in den Momenten nach einer solchen späten Niederlage, das positive Denken zu behalten und auf die guten Dinge hinzuweisen?
Ganz einfach: Weil ich in meinem Leben gelernt habe, im Grundsatz immer positiv zu denken. So bin ich. Und wenn ich diese Grundstimmung in meinem Körper spüre, dann bin ich auch bereit, sie auf die Mannschaft zu übertragen. Wenn das einmal nicht der Fall ist, dann sage ich lieber nichts und rede halt einen Tag später.
Dann waren Sie auch ziemlich überzeugt davon, dass dem Team drei Tage später gegen Irland eine Reaktion glückt?
Genau. Ich hatte und habe vollstes Vertrauen in meine Gruppe. Es gibt nur ganz wenige Spiele, in denen sie die Leistung nicht gebracht hat, wenn sie unter Druck stand. Das 2:0 gegen Irland war ein klares Zeichen, dass die Nati lebt. Auch wenn ich natürlich gesehen habe, dass uns eine gewisse Lockerheit noch gefehlt hat.
Vor allem nach dem verschossenen Penalty von Ricardo Rodriguez. Hatten Sie da Angst, dass ein eventuelles Gegentor – wiederum spät im Spiel – das Team aus der Bahn werfen könnte?
Ja, diese Angst habe ich gespürt. Aber in so einem Moment natürlich nicht gezeigt. Ich versuchte, die Spieler noch mehr zu pushen. Ich habe ausgestrahlt, dass wir das zweite Tor anstreben wollen. Aber Fehler können immer passieren! Im Hinterkopf wusste ich schon, dass gegen einen solchen Gegner, der mit vielen langen Bällen agiert, mal ein dummes Gegentor passieren könnte.
Vier Punkte aus den Partien gegen Georgien und Gibraltar fehlen noch, dann wäre die EM-Qualifikation geschafft. Dürfen wir uns schon freuen?
Nein, nein. Zuerst müssen zwei Siege her! Wir wollen den ersten Gruppenrang erreichen. Das ist auch eine Prestige-Sache. Und das, was wir nach dem Gezeigten in dieser Kampagne verdient hätten. Momentan gilt: Ich verschwende keine Gedanken an die EM.
Ich frage trotzdem: Was wäre möglich an der Europameisterschaft?
Alles. In jede Richtung. Das haben wir gezeigt in der Nations League. Mit ein bisschen Glück, das man auch mal erzwingen muss. Vielleicht hat der Gegner dann keinen Ronaldo auf seiner Seite. Wer weiss.
Der grosse Traum wäre es, einmal ein Viertelfinal zu erreichen – haben Sie den ebenfalls?
Wissen Sie, was meine Gedanken wären, wenn wir ein Viertelfinal erreichen würden? Ich wäre kurz zufrieden und dann denke ich nur darüber nach, wie wir das Halbfinal erreichen.
Die Frage ist hypothetisch, aber gleichwohl interessant: Wie kann man vor einem nächsten Spiel in der K.O.-Phase vermeiden, an die drei verlorenen Achtelfinals an WM 2014, EM 2016 und WM 2018 zu denken?
Ich denke, die Überzeugung und der Glaube an sich selbst wächst automatisch während eines Turniers. Das wichtigste ist genau das: dass die Mannschaft den Glauben an den Erfolg in sich trägt. Und wie ich sie kenne, wäre das der Fall! Ich selbst wäre dann wohl auch mit dem einen oder anderen psychologischen Wort gefordert. Ich möchte aber nochmals wiederholen: Es ist für den Schweizer Fussball ein grosser Erfolg, an eine Endrunde zu kommen. Und es ist ein noch grösserer Schritt, in das Achtelfinal zu kommen. Noch weiter zu kommen – das wäre dann das Supplement.
Sie vermitteln häufig das Gefühl: «Mich kann nichts aus der Bahn werfen.» Denken Sie wirklich nie daran, wie es wäre, wenn etwas nicht gelingt?
Es gibt ein schönes italienisches Sprichwort, das sich nicht perfekt übersetzen lässt. Sinngemäss heisst es: Ich möchte nicht eine Wunde verarzten, bevor sie überhaupt da ist. So bin ich.
Welche Lehren haben Sie aus dem Achtelfinal-Out an der WM 2018 gegen Schweden gezogen?
Zugegeben, das war ein spezielles Spiel. Ich als Trainer muss noch überzeugender wirken. Dazu muss es mir gelingen, die Mannschaft im Vorfeld noch besser zu beobachten. Es gab für mich jedenfalls keine Indizien, dass wir müde waren. Und doch fehlte die mentale und physische Kraft, etwas zu bewegen.
Haben das Serbien-Spiel und der Doppel-Adler zu viel mentale Kraft gekostet?
Es bringt nichts, Entschuldigungen zu suchen. Sicher hat ein Teil davon Einfluss gehabt. Es waren schwierige Tage, wir haben auch mitbekommen, was dieses Spiel ausgelöst hat. Und das hat betroffen gemacht, weil wir alle auch Menschen sind mit Gefühlen. Jeder hat das dann auf seine Art verarbeitet. Ich hätte wohl ein besserer Psychologe sein müssen. Wenn wir etwas daraus ziehen, dann vielleicht, konkreter über solche Situationen zu reden in der Gruppe. Nur: Einen solchen Ausnahmezustand erlebt man nicht alle Tage.
Vor dem Spiel gegen Irland haben Sie sich geäussert in die Richtung, dass Ihnen manchmal die Akzeptanz und die Anerkennung als Nationaltrainer fehlen, seit Ihrem Start schon. Ist es tatsächlich so schlimm?
Nicht dauernd. Und schon gar nicht flächendeckend. Im Volk, in der Schweiz und in Europa, bin ich gut angesehen. Sicher, das musste sich entwickeln, von Jahr zu Jahr empfinde ich nun mehr Sympathie. Dann gibt es aber auch einige Meinungen über mich, die… (überlegt). Ich sage nicht, es ist mir gleichgültig, wenn mich jemand angreift, ich ärgere mich darüber, weil ich bin auch ein sensibler, emotionaler Mensch. Und manchmal werfe ich im übertragenen Sinn dem Angreifer auch einen Stein zurück, einfach um zu zeigen: Ich habe den Angriff verstanden und wehre mich.
Was macht denn am meisten Spass als Nationaltrainer?
Ich darf den Fussball von zwei Seiten anschauen. Einerseits aus der Garderoben-Optik, auf dem Rasen, mit meinem Team. Aber dann auch als Beobachter von der Tribüne aus – im Gespräch mit anderen Funktionären, Präsidenten, Managern, Trainern. Dabei sein und von oben schauen. Diese Dinge haben mir die Möglichkeit gegeben, ein kompletteres Bild des Fussballs zu erhalten.
Würden Sie Ihren Vertrag gerne verlängern, also bis über die EM 2020 hinaus Trainer der Schweiz bleiben?
Es ist zu früh, um darüber zu reden. Der Fussball ist ein Tages-Geschäft. Wir müssen uns zuerst für die EM qualifizieren. Dann haben wir alle Zeit, um unsere Gedanken zu entwickeln. Ich kann sagen: Ich bin im Moment sehr gut drauf, mit dieser Gruppe, nicht nur mit den Spielern. Ich spüre Akzeptanz und Positivität. Und versuche jeden Tag, das weiterzugeben.
Sie sagen: Sie sind gerne Nationaltrainer.
Ja, immer wieder von neuem.
Trotz allem gab es in den letzten Jahren immer wieder Nebenschauplätze. Haben Sie einmal gedacht: Warum tue ich mir das an, weiter Nationaltrainer zu sein?
Nein, im Leben geht es nicht immer bergauf. Natürlich gibt es auch Momente des Zweifelns und angefressene Gedanken über einige Situationen. Das ist immer so. Am Ende zählt: Was bewegt man? Und was erhält man zurück? Und es ist wichtig, zu spüren, dass man noch mehr bewegen kann.
Wenn Sie hören, wie Granit Xhaka oder Stephan Lichtsteiner fordern: Bitte, Schweizer Fussballverband, gebt Vladimir Petkovic einen neuen Vertrag, …
… nicht mit diesen Worten …
… aber fast. Was löst das in Ihnen aus?
Sicher ist dann ein Trainer sehr zufrieden. Das kommt von den Menschen, die rund um die Länderspiele täglich mit einem zusammen sind und mit denen man ausserhalb im Austausch steht. Es sind Signale, dass ich etwas Schönes ausgelöst habe, der Gruppe etwas gegeben habe. Aber der Verband muss nicht zu sehr auf solche Voten hören. Die Entscheidung ist ein Mosaik, und jedes Teil muss stimmen. Es muss am Ende für beide Seiten selbstverständlich sein, die Zusammenarbeit fortzuführen, mit voller Überzeugung. Ich kann aber sagen: Ich arbeite gerne mit der Gruppe. Und das ist eine gute Ausgangslage.
Merkt man als Trainer eigentlich immer, wie gut ein Team – menschlich – zusammenpasst?
Ja, auch weil man immer wieder Abstände hat, bevor man sich wieder sieht. Ich selbst merke es vor allem, wenn es Nebenschauplätze gibt. Wie reagiert das Team darauf? Schweisst es die Spieler zusammen? Oder fällt die Gruppe auseinander? Als Trainer bewerte ich auch das. Für mich ist es nicht nur wichtig, die 23 besten Spieler zu haben. Sondern auch, welche 23 am besten zusammenpassen.
Hatten Sie Angst, dass im Team etwas hängen bleibt nach der Doppelbürger-Affäre kurz nach der WM 2018?
Eine gewisse Angst war schon dabei, ja. Im Rückblick betrachtet hat uns diese Episode glücklicherweise noch enger zusammengeschweisst. Die Akzeptanz untereinander ist noch grösser geworden. Wir hatten Schwierigkeiten, aber haben sie gelöst.
Im Spätsommer war die Absage von Xherdan Shaqiri für das Nationalteam ein grosses Thema. Haben Sie die Dimensionen des Falls Shaqiri unterschätzt?
Ich habe einiges falsch gemacht, vor allem blieben zu viele Fragen zu lange offen. Das stimmt. Mein Gedanke war: Ich behandle die Absage von Shaqiri so, wie wenn ein anderer Spieler nicht zur Verfügung steht. Und ich glaubte, es stehen nicht so viele Fragezeichen im Raum, dass sich dieses Thema derart lang hätte hinziehen müssen.
Shaqiri hat in dieser EM-Qualifikation keine einzige Minute gespielt. Haben Sie das Schweizer Nationalteam von ihm emanzipiert?
Wir pflegen unseren Spielstil unabhängig davon, wer dabei ist, das ist mir wichtig. Aber: Ich habe Shaqiri noch so gerne dabei! Ich sehne mich danach, bis er wieder dabei ist.
Würden Sie die Beziehung zwischen Ihnen und Shaqiri nicht mehr in dieser Art thematisieren, wie Sie es getan haben?
Was habe ich genau gesagt?
Ihre Aussage war: «Die Beziehung mit Shaqiri könnte besser sein.»
Genau. Aber nicht nur mit Shaqiri. Die Beziehung könnte mit allen besser sein, auch mit meiner Frau, immer. So ist das im Leben. Ich bin nie vollumfänglich zufrieden, nie! Auch nicht nach einem guten Resultat. Es gibt immer etwas zu verbessern. Das habe ich damit gemeint. So ist es eben auch in allen Beziehungen. Es kann schon sein, dass man mich nicht ganz präzis verstanden hat – oder nicht verstehen wollte.
Zum Schluss: Wie geht es Ihnen persönlich ausserhalb des Fussballs?
Gut. Auch weil es der Familie gut geht. Meine Töchter beschreiten ihren eigenen Weg, feiern eigene Erfolge. Ein normales Familienleben halt.
Wie reagiert Ihre Familie nach einem Spiel?
Meine Frau und die beiden Töchter nimmt ein Spiel viel mehr mit als mich. Sie spüren den Fussball richtiggehend. Und ich muss dann sagen: Werdet lockerer (lacht)! Nächstes Mal bekommt ihr kein Ticket mehr, ihr habt Stadionverbot! Wenn sie so nervös sind, auch noch nach dem Spiel, dann stimmt doch etwas nicht (lacht wieder). Nein, es ist wunderbar zu spüren, wie sehr sie mitfiebern.
Aus der Sicht eines eher distanzierten Fussballinteressierten schätze ich – unabhängig von der Sportart – Beiträge, die auf wohltuend unaufgeregte, respektvolle Weise dem oder der Porträtierten ermöglichen, sich zu öffnen.
Sie geben einen persönlichen Einblick und erlauben einen Bezug – auch zu eigenen Erfahrungen.
Leider sind solche Beiträge in der lauten Medienlandschaft viel zu selten.
Danke an Herrn Vuillemin und Herrn Petkovic.