Sie sind im Kosovo ein riesiger Star – wie muss man sich das vorstellen, wenn Sie im Land zu Besuch sind?
Xherdan Shaqiri: Es ist schon verrückt. Die Leute kennen mich alle. Und weil ich nicht so häufig im Kosovo bin, ist es umso spezieller, wenn ich mal dort bin. Wenn es sich herumgesprochen hat, klingelt es jede Stunde an der Tür.
Nicht alle zehn Minuten?
Es kommt darauf an (lacht). Wenn Ferien sind und viele Schweizer im Land. Meine Eltern sagen dann manchmal: Er ist nicht da.
Und dann werden Sie überall eingeladen?
Manchmal. Ich möchte aber vor allem meine Familie besuchen. Und wissen Sie, die Familie ist ziemlich gross. Mein Vater und meine Mutter haben je acht, respektive neun Geschwister. Nun können Sie sich vorstellen, wie viele Cousins und Cousinen ich habe… (lacht)
Kennen Sie alle?
Es kommt vor, dass plötzlich Cousins und Cousinen auftauchen, die ich noch nie zuvor gesehen habe.
Was löst das Spiel Schweiz-Kosovo in Ihnen aus?
Zunächst: Es ist ein Freundschaftsspiel. Das trägt «Freundschaft» in sich. Und genau das ist es, was die Beziehung zwischen der Schweiz und Kosovo prägt. Einige unserer Spieler haben kosovarische Wurzeln. Und sie haben viele Spieler, die in der Schweiz die fussballerische Ausbildung absolvierten und hier spielen. Es verbindet uns einiges. Aber auch wenn es ein Fussballfest wird, ist klar: Beide wollen gewinnen. Wir haben nicht allzu viele Spiele, um den Ernstfall der WM zu proben.
Granit Xhaka hat schon mal den WM-Titel als Ziel ausgerufen. Einverstanden?
Wirklich? (überlegt) Ich träume auch gerne. Aber ich träume eher im Stillen. Für einen Titel an einem grossen Turnier müssen schon sehr viele Dinge stimmen. Zuerst müssen wir die Gruppe überstehen, das ist Herausforderung genug. Aber ja, im Fussball ist alles möglich. Denken wir nur daran, wie Leicester englischer Meister wurde.
Im letzten Sommer stand dem EM-Halbfinal nur ein Penaltyschiessen im Weg.
Kommt jetzt schon der Druck, dass wir den WM-Final erreichen müssen? (lacht)
Es zeigt einfach, wie wenig fehlt, um sehr weit kommen zu können.
Das ist so. Aber ich warne davor, den Erfolg plötzlich als selbstverständlich zu sehen. Wir haben einen tollen Teamspirit und vieles läuft gut. Aber es muss nicht sein, dass es dann automatisch immer so läuft. Schauen Sie Italien an, als Europameister nun rausgeflogen und nicht mal an der WM dabei. Wir sind nicht Brasilien, nicht Deutschland, nicht Frankreich. Wir sind immer noch die Schweiz, die immer als Kollektiv erfolgreich war. Es müssen viele Elemente zusammenstimmen, um einen Coup zu schaffen.
Am Samstag verlor die Schweiz 1:2 in England. Welche Aspekte geben Ihnen Zuversicht für die Zukunft? Und was muss besser werden?
Positiv war vor allem die erste Hälfte. Da waren wir sehr dominant. Aber es ist klar, dass bei einem Team wie England Widerstand kommt. Da müssen wir es künftig hinkriegen, auch über 90 Minuten mitzuhalten. Das ist logischerweise nicht immer einfach umzusetzen.
Wie hat sich der Fussball verändert, seit Murat Yakin von Vladimir Petkovic übernommen hat?
Es ist nicht einfach, die Lücke zu füllen, die Petkovic hinterlassen hat. Schliesslich ist es sehr gut gelaufen die letzten Jahre. Und dann kommt plötzlich eine neue Ära. Muri hat das sehr gut gemacht. Er ist sehr authentisch, stets happy, lacht viel, ist einerseits locker, aber gleichzeitig auf dem Platz sehr hart, er fordert Leistung. Er findet die richtige Balance. Und sein ganz grosses Plus: Er war selbst Nationalspieler. Er spürt genau, wie die Spieler denken oder was sie empfinden.
Was empfindet denn ein Nationalspieler?
Ein Beispiel: Er weiss genau, wie es ist, an einem eiskalten Abend in Litauen zu spielen. Er hat solche Spiele auch erlebt. Der Platz, die Umstände… Er weiss, wie er dann die Mannschaft einstellen muss. Und er hat eine bemerkenswerte Coolness, das hilft, gerade den Jungen. Er hat die Gabe, einem die Nervosität auszutreiben.
Man hat das Gefühl, die Stimmung im Team sei mit ihm lockerer geworden – nehmen Sie das auch so wahr?
Der Umgang ist sicher relaxter. Die Spieler sind etwas länger am Tisch, sprechen mehr miteinander. Es wird mehr gelacht und Freude gelebt.
Xhaka absolviert gegen den Kosovo sein 100. Länderspiel. Sie das 102. Was würde Ihnen die Rekordmarke von 118 Länderspielen von Heinz Herrmann bedeuten?
Es wäre sicher schön, diese Marke zu knacken – aber nicht das Wichtigste. Ich bin schon froh, dass ich 100 absolviert habe, ich habe jedes einzelne davon genossen. Aber ich will nicht als Rekordnationalspieler in Erinnerung bleiben, sondern als spezieller Spieler, der für die Schweiz für spezielle Momente gesorgt hat.
Ihr Wechsel in die Major League Soccer zu Chicago liegt nun ein paar Wochen zurück. Wie ist das neue Leben?
Ich fühle mich sehr wohl. Am Anfang war ich aufgeregt, klar. Bei einem Wechsel innerhalb von Europa verändert sich eigentlich jeweils nicht viel. Nun kannte ich nichts und niemanden – ausser Georg Heitz. Darum war ich aufgeregt.
Wie gross war dieser Schritt für Sie? Es ist ja doch eine komplett andere Welt.
Es ist sicher ein gewagter Schritt. Das Leben ist anders. Auch der Fussball in der MLS ist anders. Aber viele unterschätzen ihn, gerade in Europa. Ich habe nun mit eigenen Augen gesehen, dass durchaus Qualität vorhanden ist. Es wird sehr professionell gearbeitet. Es sind viele Fachleute mit an Board. In Sachen Technologie sind die Amerikaner sowieso vorne dabei.
Georg Heitz erzählte, dass Sie nach seinem ersten Anruf zunächst gezögert hätten. Was hat Sie dazu bewogen, umzudenken?
Für mich war das sportliche Projekt entscheidend. Chicago will um mich herum ein Team bauen. Das finde ich sehr reizvoll. Und ich will dieses Team zum Erfolg führen.
Wie sieht Ihre erste Zwischenbilanz aus? Chicago ist mit zwei Siegen und zwei Unentschieden gestartet.
Sehr gut! Wenn die Stürmer alle aus ihren Chancen ein paar Tore mehr gemacht hätten, stünde ich schon bei etwa sieben Assists (lacht laut). Es war schon nicht so einfach für mich, ich kannte keinen Spieler. Wir brauchen etwas Zeit, um uns aneinander zu gewöhnen. Es dauert, bis sie meine Spielweise und meine Denkweise kennen – und umgekehrt. Wir haben den besten Start seit neun Jahren hinter uns, das ist schon mal positiv.
Wie sind die bisherigen Gegner einzuschätzen?
Das ist schwierig zu sagen. Meine Teamkollegen sagen vor jedem Spiel: «Uuh, die sind sehr gut!» Aber vielleicht ist das auch so, weil Chicago in den letzten Jahren nicht so gut war. Nach dem Sieg bei D.C. United in Washington da wurde gefeiert, wie weiss ich was! Ich glaube, der letzte Auswärtssieg ist eine Weile her… Da musste ich die Jungs schon ein bisschen runterkühlen (lacht).
Wie sehr kannte man Sie in Chicago?
Ich war überrascht, wie viele Leute mich kennen. Es war jedenfalls schön, die Euphorie in der Stadt zu spüren. Die Leute vermittelten mir das Gefühl, es beginne eine neue Ära.
In Liverpool und Lyon war Ihre Rolle zuletzt eine komplett andere als nun in Chicago. Wie ist es, der unbestrittene Leader einer Equipe zu sein?
Toll! Ich arbeite sehr gerne mit jungen Spielern zusammen. Es ist interessant, wie sie ticken. Das ist schon ganz anders als in Europa. Sie wollen vieles von mir wissen. Wie war es da? Wie war es dort? Wie tickt dieser Trainer und jener? Ihre Neugier ist toll!
Die WM 2026 wird unter anderem in den USA stattfinden. Ist sie schon ein Thema?
Ich habe erst einmal darüber gesprochen mit unserem Teammanager. Und wenn ich ehrlich bin, hatte ich es zuvor gar nicht präsent, dass die übernächste WM ja in den USA, Kanada und Mexiko stattfindet. Sie ist schon noch ziemlich weit weg. Aber es stimmt schon, sie wird einiges auslösen. In Chicago entsteht auch gerade ein neues Trainingscenter für 100 Millionen.
Und Sie als Spieler – werden Sie 2026 noch dabei sein?
Ich hoffe, meine Knie halten bis dahin und ich kann noch gerade stehen (lacht). Ich werde sicher versuchen, so lange wie möglich zu spielen, das ist klar.