Na ja, vielleicht lauern auf den Dächern da oben irgendwo Scharfschützen. Oder Agenten des Geheimdienstes sitzen getarnt als Zivilisten im Strassencafé.
Es kann einfach nicht sein, dass ein olympischer Wettkampf – erst noch ein solcher auf höchstem Niveau in einer gerade in Frankreich enorm prestigeträchtigen Sportart – für alle frei zugänglich ist. Keine Funktionäre, keine Sicherheitsleute behindern den Zutritt. Keine Tickets, keine Akkreditierungen, kein Passieren einer Sicherheitsschleuse sind erforderlich, um ganz, ganz, ganz nahe am Geschehen zu sein.
Olympische Spiele für alle. Im Herzen von Paris. Ganz im Geiste der hiesigen Kultur und der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – «Liberté, Égalité, Fraternité».
Die wundersame Geschichte beginnt mit geplantem Müssiggang. Der Auftritt von Tennisspieler Stan Wawrinka ist auf den Sonntag verschoben worden. Also gibt es heute kein olympisches Drama zu erleben. Warum nicht ein bisschen lesen – vielleicht gar einen Bukowski – und vor allem ausgiebig speisen und ein wenig trinken?
Am frühen Nachmittag wird die beschauliche Ruhe am Boulevard de Diderot hin und wieder durch Jubel und Johlen unterbrochen. Was mag hier los sein? In einem eigentlich ruhigen Quartier. So fern des olympischen Trubels?
Nach mehr als einer Stunde geruht der Chronist den Müssiggang dann doch zu unterbrechen und nachzusehen, was da los ist. Nach zehn Minuten Fussmarsch befindet er sich inmitten des olympischen Spektakels. Er ist nicht nur dabei, sondern mittendrin.
Entlang der Strasse sind Gitter aufgestellt. Damit niemand einfach so über die Fahrbahn hühnert. Aber die Fussgänger dürfen passieren. Sie werden lediglich in unregelmässigen Abständen von freundlichen freiwilligen Helfern aufgehalten, die zu dem Zwecke ein Seil spannen. Damit die Fahrbahn frei bleibt. Fast wie einst Bahnwärter, die von Hand die Barrieren herunterkurbelten.
Impressionen vom olympischen Zeitfahren. Leider nicht persönlich in Paris. #HoppSchwiiz pic.twitter.com/m6Hlcbf0Sz
— Ralf Meile (@ralfmeile) July 27, 2024
Wie bei einem Quartier-Sportfest. Einer Provinz-Veranstaltung. Aber hier es geht um olympisches Gold und Geld. Im Radsport. Im Einzelzeitfahren.
Es ist verrückt: Die Strecke verläuft durch die Quartierstrassen. Durch das wahre, ewige Paris. Gesprenkelt mit Bäumen, Cafés, Bäckereien, Läden, Apotheken. Stellenweise nicht viel mehr als zwei Meter vorbei an den gut besetzten Tischen der Strassencafés.
Nun wird klar, warum der Jubel nur hin und wieder anhebt: Beim Zeitfahren sind die Heroen der Landstrasse allein unterwegs. Sobald einer naht, halten die freiwilligen Helfer mit einem Seil die Fussgänger kurz auf. Sogleich braust ein schweres Motorrad vorbei, manchmal auch noch ein Auto. Dann huscht ein Zeitfahrer vorbei. Geräuschlaus, blitzschnell wie ein Kobold und hintendrein folgt ihm ein Materialauto.
Es ist unmöglich zu erkennen, wer da vorbeihuscht, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt und erst recht weiss niemand, wer jetzt am schnellsten unterwegs ist. Phantome in den Strassen von Paris. Statt ein Phantom in der Oper.
Nun ist klar, warum der Jubel bei allen ungefähr gleich ist. Gefeiert werden einfach alle olympischen Gladiatoren. Alle sind gleich. Wahre, echte Olympia-Romantik. Ganz im Sinne des alten Baron Pierre de Coubertin, des Gründers der modernen Olympischen Spiele.
Lockerer, unkomplizierter, unbeschwerter, leichter sind die Olympischen Spiele nicht zu erleben. Die Leichtigkeit des olympischen Seins. Mitten in Paris.
Was für ein verrückter Gegensatz. Viele haben monatelang vergeblich versucht, Tickets zu irgendeinem olympischen Wettstreit zu ergattern, die ordentlich Geld kosten. Und hier, im Herzen von Paris, ist die olympische Magie besser zugänglich als mit einem VIP-Pass oder einer Akkreditierung – und gratis. Viele Passanten ignorieren das Spektakel und eilen vorbei. Stell Dir vor, es sind Olympische Spiele und niemanden interessiert es.
Aber was ist denn eigentlich mit der Sicherheit, die an vielerlei Orten hier schon fast inszeniert und zelebriert wird? Sogar jede noch so harmlose Chronistin und jeder noch so unschuldige Chronisten wird vor dem Betreten der Schreibstuben, meist weitab «vom Schuss» eingerichtet, kontrolliert wie am Flughafen.
Wir wollen nicht grübeln.