Unheimlich ist es eigentlich schon lange, was Real Madrid in der Champions League immer wieder gelingt. Nun hat der königliche Spuk auch die Bayern ereilt. 87 Minuten lang scheint Manuel Neuer im Tor der Gäste unbezwingbar, Mal um Mal lässt er die Madrilenen mit seinen grandiosen Paraden verzweifeln. Doch dann unterläuft dem 38-Jährigen ein folgenschwerer Patzer: Ein Schuss von Vinicius setzt kurz vor dem Deutschen tückisch auf, wodurch er den Ball nicht zu fassen kriegt. So ist es ein leichtes für den eingewechselten Joselu, einzuschiessen. 1:1.
Noch ist aber alles im Rahmen, denn nach dem 2:2-Unentschieden im Hinspiel würde es bei diesem Stand zur Verlängerung kommen. Aber die Gastgeber schöpfen aus dem Ausgleich frische Hoffnung und neue Kraft, während die Beine der Bayern wohl auch aufgrund des Mythos Madrid plötzlich zu schlottern zu beginnen scheinen. Real greift weiter an und plötzlich zappelt der Ball erneut im Netz. Die Abseitsfalle der Münchner schlägt fehl und so steht Joselu beim Querpass des von Nacho grandios angespielten Antonio Rüdiger viel zu frei vor dem Tor und kann zum zweiten Mal innert drei Minuten unbedrängt einschieben. 2:1 für Real Madrid. Nun befindet sich das Estadio Santiago Bernabéu in völliger Ekstase.
Bis zum endgültigen Jubel müssen sich die Madrilenen aber noch eine knappe Viertelstunde gedulden. Erst in der 105. Minute ertönt der Abpfiff, nachdem die Emotionen bei den Gästen kurz zuvor noch einmal so richtig hochgekocht sind.
Denn eine aussichtsreiche Situation, an deren Ende Matthijs de Ligt gar ins Tor trifft, wird aufgrund eines Abseitsverdachts sofort abgepfiffen, anstatt wie üblich abzuwarten. Ob der Niederländer auch erfolgreich gewesen wäre, hätte Goalie Andrij Lunin sich danach gestreckt, ist schwierig zu beantworten. Der Münchner Ärger ist jedoch nicht unberechtigt.
Bayern-Urgestein Thomas Müller sagt nach dem Spiel: «Das ist ein unglaublicher Fehler, Schnitzer, was auch immer. Wenn das wirklich kein Abseits war, ist das natürlich unglaublich!» Auch Experte Marcel Reif findet nach dem Spiel bei Blue Sport deutliche Worte: «Das ist ein Skandal!» Ex-Schiedsrichter Urs Meier kritisiert das Schiedsrichter-Gespann ebenfalls deutlich, wobei er den Fehler beim Linienrichter und nicht beim Mann auf dem Platz sieht: «Wenn der die Fahne hebt, pfeift man als Schiedsrichter einfach ab.»
Obwohl Noussair Mazraoui wohl knapp nicht im Abseits gestanden hatte, konnte deshalb auch der Video-Assistent nicht mehr eingreifen. Somit ist klar: Real Madrid trifft im Final der Champions League auf Borussia Dortmund, während Bayern München erstmals seit der Saison 2011/12 ohne Titel bleibt.
Insgesamt ist es ein verdienter Triumph für das Team von Carlo Ancelotti, das die wichtigste Trophäe im europäischen Klubfussball nun bereits zum 15. Mal gewinnen könnte. Schon in der 1. Halbzeit ist Real Madrid das bessere Team, hat die besseren Chancen und lässt kaum etwas zu. Nach der Pause dominieren die Königlichen den Gegner regelrecht. Allen voran Vinicius spielt Joshua Kimmich und den Rest der Bayern-Defensive immer wieder schwindlig und versucht seine Mitspieler zu bedienen. Doch immer wieder ist da Manuel Neuer.
Und wie es im Fussball manchmal so ist, werden die Madrilenen für ihre Ineffizienz bestraft. Denn plötzlich heisst es 1:0 für den FC Bayern München. Nach einer Balleroberung am eigenen Strafraum lanciert Jamal Musiala einen Konter, spielt am Mittelkreis quer auf Harry Kane, der den Ball ganz weit auf den linken Flügel schlägt, wo Alphonso Davies bereitsteht. Der Kanadier nimmt den Ball an, läuft ein paar Meter und schlenzt ihn unhaltbar für Lunin ins lange Eck.
Die Führung scheint allerdings von kurzer Dauer, weil es nach einem Eckball auf der Gegenseite ebenfalls einschlägt. Nacho Fernandes schubst Joshua Kimmich weg, steckt den Ball durch und irgendwie landet der dann via Davies im Tor. Der 23-Jährige, der immer wieder mit einem Wechsel zum heutigen Gegner in Verbindung gebracht wird, droht vom Helden zum Unglücksraben zu werden, doch Schiedsrichter Marciniak wird vom Video-Assistenten an die Seitenlinie gebeten. Ein kurzer Blick auf den Bildschirm reicht dem Polen, um zu sehen, dass sich Fernandes den nötigen Raum auf unerlaubte Weise verschafft hat. Der Treffer zählt zum Ärger eines Grossteils der gut 83’000 Zuschauerinnen und Zuschauer in der spanischen Hauptstadt nicht.
Danach sieht es lange so aus, als könnte der FC Bayern die Führung bis zum Ende verteidigen – bis sich der Bann, den Manuel Neuer über sein Tor gelegt hat, angesichts der königlichen Geister in Luft auflöst.
Real Madrid - Bayern München 2:1 (0:0)
SR Marciniak.
Tore: 68. Davies 0:1. 88. Joselu 1:1. 91. Joselu 2:1.
Real Madrid: Lunin; Carvajal, Rüdiger, Nacho, Mendy; Valverde (81. Joselu), Tchouaméni (70. Camavinga), Kroos (69. Modric), Bellingham (100. Éder Militão); Rodrygo (81. Díaz), Vinícius Júnior.
Bayern München: Neuer; Kimmich, de Ligt, Dier, Mazraoui; Laimer, Pavlovic; Sané (76. Kim Min-Jae), Musiala (84. Müller), Gnabry (27. Davies); Kane (85. Choupo-Moting).
Verwarnungen: 101. Camavinga.