Seit der vorzeitigen Verkündung der Scheidung Ende September ist das Verhältnis zu seinem Team völlig zerrüttet. Nach einem 5. Platz in Le Mans folgten seither ein 12. Rang und zwei «Nuller» hintereinander. So von der Rolle war Tom Lüthi in der Moto2-WM noch nie.
Wenn sich ein Spieler in einem Fussball- oder Hockey-Team nicht mehr wohl fühlt, dann wird er entweder nicht mehr eingesetzt oder vorzeitig transferiert. Diese Möglichkeiten sind im Motorradrennsport nicht gegeben. Die Verpflichtungen gegenüber Sponsoren erlauben keine Verbannung auf die Ersatzbank und während der Saison machen in einem so komplexen Gebilde wie einem Rennteam Transfers keinen Sinn. Der Fahrer muss sich durchbeissen und zu einem unguten Spiel gute Miene machen.
Tom Lüthi hat seine Zukunft trotz allem längst gesichert. Er wird die nächsten zwei Jahre (2021, 2022) im Team des Spaniers Eduardo Perales fahren. Er hat diese Saison nichts mehr zu gewinnen. Aber viel zu verlieren. Ein Sturz im vorletzten Rennen, ein Sturz im Training und nun ein 19. Platz im letzten Rennen: Es tut schon fast körperlich weh, dieser Demontage eines grossen Fahrers zuschauen zu müssen.
Inzwischen ist alles analysiert und alles zu dieser missglückten Saison gesagt, geschrieben und gesendet worden. Die Motivation, sich für einen Fahrer zu «zerreissen», der ohnehin gehen wird, ist bei seinem Team längst nicht mehr da. Auch wenn offiziell das Gegenteil behauptet wird. Und so wird die ganze Sache nicht nur sinnlos. Sie wird gefährlich. In diesem Sport kann jeder Fehler die Gesundheit des Fahrers gefährden.
Eine Fortsetzung der Saison macht für Tom Lüthi unter diesen Voraussetzungen keinen Sinn mehr. Inzwischen geht es nicht mehr darum, welche Resultate noch erzielt werden. Es geht nur noch darum, dass der Emmentaler heil durch die letzten zwei Rennen kommt. So gesehen riskiert Tom Lüthi unter den gegebenen Umständen in den letzten zwei Rennen seine Karriere. Aber eben: Aufgeben kommt nicht in Frage.
Tom Lüthi ist am Tiefpunkt, aber mit 34 noch nicht am Ende seiner Karriere angelangt. Die Voraussetzungen zu einem goldenen Karriereherbst in der nächsten und übernächsten Saison sind gut. Im solid strukturierten Team des Spaniers Eduardo «Edu» Perales bekommt er eine letzte Chance. Er ersetzt dort Remy Gardner (zu KTM), wird die Nummer 1 sein und kann mit Kalex erstklassiges Material einsetzen.
2021 wird es keine Ausreden mehr geben. Wenn es im spanischen Team auch nicht funktionieren sollte, dann wird Tom Lüthi dafür die Verantwortung zu tragen haben. Denn dann sind nach allem, was diese Saison passiert ist, die Meinungen unabhängig vom Sachverhalt in der Öffentlichkeit gemacht. Gegen Tom Lüthi. Das sind einerseits schwierige Voraussetzungen. Andererseits werden die Erwartungen im nächsten Frühjahr nicht mehr hoch sein. Die Rolle des Aussenseiters wird ihm besser behagen als die eines Titel-Anwärters.
Wenn Tom Lüthi heil durch die letzten zwei Runden kommt und wenn es ihm gelingt, über die Winterpause sein Selbstvertrauen wieder aufzuforsten, dann kann er als «grosser alter Mann» der zweitwichtigsten Töff-WM noch einmal vorne mitfahren. Er hat nichts mehr zu verlieren, aber alles zu gewinnen. So gesehen, können wir sagen: Tom Lüthi ist am Tiefpunkt seiner Karriere angelangt – na und?
Soo viele Schweizer Sportler sind wesentlich näher an der Weltspitze und kriegen kaum Aufmerksamkeit, geschweige denn bebilderte (das ist ja für die Sponsoren interessant) Berichterstattung.