Die erste Sensation: Der Bub eines Garagisten aus dem bernischen Dorf Rohrbach bei Langenthal (1391 Einwohner) steigt bis in den GP-Zirkus auf. So ist Dominique Aegerter (30) einer der populärsten Einzelsportler im Land geworden. Diese Geschichte ist schon oft erzählt worden.
Die zweite, weit grössere Sensation: Er hat es geschafft, seine Karriere nach der Verbannung von der höchsten Töffbühne zu retten. Es gibt in unserem Töffrennsport ein ungeschriebenes Gesetz: Wer seinen Platz in den GP-Klassen (heute MotoGP, Moto2, Moto3) verliert, gerät in Vergessenheit. So ist es zuletzt dem Zürcher Randy Krummenacher (32) ergangen. Aber auch für Urs Luzi, Bernhard Haenggeli, Heinz Lüthi (mit Tom Lüthi nicht verwandt), Niggi Schmassmann, Wolfgang von Muralt, Oliver Petrucciani, Bruno Lüscher oder Roland Freymond – alles bestandene Schweizer GP-Haudegen – gab es nach dem Ende der GP-Einsätze keine Fortsetzung der Karriere.
Das ist durchaus logisch. Der Aufstieg auf das höchste internationale Niveau ist ein Kraftakt sondergleichen. Mut und Talent reichen bei Weitem nicht aus. Die Finanzierung und die dafür erforderliche Medienpräsenz (Vermarktung) ist im begrenzten Schweizer Markt enorm schwierig. Geht die Plattform GP-Zirkus verloren, ist die Finanzierung nicht mehr möglich.
Dominique Aegerter aber rockt den internationalen Töffrennsport weiterhin auf internationalem Niveau. Er hat seinen zwei Jahre älteren Bruder als Manager angestellt und mischt weiterhin die internationale Töffwelt auf. Weil ihm etwas gelungen ist, was keiner der Schweizer geschafft hat, die vor ihm, aus dem «Paradies GP-Zirkus», vertrieben worden sind: Er hat sich neu erfunden und im Markt neu positioniert. Aus Dominique Aegerter ist so etwas wie ein «Batterie-Rossi» geworden: Was Valentino Rossi jahrelang mit der Nummer 46 im GP-Zirkus war, das ist Dominique Aegerter mit der Nummer 77 nun auf den Elektro-Bikes und in der Superbike-Szene: der charismatischste, spektakulärste Siegfahrer.
Das neue Geschäftsmodell der Gebrüder Aegerter ist wahrlich bemerkenswert. Den Aufstieg in den GP-Zirkus orchestriert der smarte Zürcher Rechtsanwalt Robert Siegrist. Er öffnet Türen und knüpft Beziehungen, die den Weg in die grosse, weite Töffwelt erst ermöglichen. Aber Ende 2018 zieht er sich aus dem Töff-Geschäft zurück. Durchaus im Frieden. Es fehlt ihm einfach die Zeit für dieses intensive Mandat und entweder macht er es richtig oder gar nicht. Sein Nachfolger Oliver Imfeld, durchaus smart und erfolgreich im Management von DJ Bobo, aber ohne langjährige Erfahrung im ganz speziellen Töffmillieu, gibt sein Mandat nach einem Jahr auf und Ende 2019 steht Dominique Aegerter nach 13 Jahren im GP-Zirkus vor dem Karrieren-Ende.
Kein Manager, kein Team, kein Töff. Er ist erst 29, im besten Rennfahreralter. Die Präsenz, um für Werber attraktiv zu sein, gibt es aber nur auf der GP-Bühne. Oder doch nicht?
Im Laufe der Jahre hat Kevin Aegerter seinem berühmten Bruder ausgeholfen. Der gelernte Autolackierer mit Sprachaufenthalten im Welschland und in Australien, mit Weiterbildung in Sportmanagement und Marketing hat so die internationale Töffwelt kennengelernt. Sozusagen als Zauberlehrling von Robert Siegrist. Sprachgewandt und mit der Oberaargauern und Garagisten eigenen Bauernschläue übernimmt er nun ab 2020 vollamtlich das Management von Dominique Aegerter.
Die Familie hat eine Aktiengesellschaft (Kapital 100'000 Franken) gegründet (AD Kira AG) und als Zweck «Erbringen von Sportdienstleistungen» im Handelsregister eingetragen. Der Firmenname bedeutet «AD» für Aegerter Dominique und Kira ist der Name des Familienhundes. Anfänglich war die Firma aus steuerlichen Gründen im Kanton Zug domiziliert. Dass das politisch kein kluger Schachzug war und der Imageschaden grösser waren als die steuerlichen Vorteile, haben die Aegerters schnell eingesehen. Der Sitz der Firma ist längst nach Rohrbach verlegt worden. So bleibt die Kirche (und das Steuergeld) im Dorf. Das ist umso wichtiger, weil heute lokale Sponsoren eine zentrale Rolle spielen.
Dominique Aegerter ist Chef der Firma, der Bruder sein Angestellter. Und siehe da: Es funktioniert. Nein, er mache es nicht des Geldes wegen, sagt Kevin Aegerter. «Rennsport ist die Leidenschaft unserer Familie und dafür arbeite ich. Ich verdiene dabei nicht mehr als einen durchschnittlichen Arbeiterlohn.» Nebst der Leidenschaft ist es auch das Abenteuer Rennsport, das ihn zusammen mit seinem Bruder rund um die Welt führt: nach Australien, Indonesien oder Argentinien.
Kann es funktionieren, wenn einer Chef seines älteren Bruders ist? «Ja, das geht sehr gut», sagt Dominique Aegerter. «Ich kann mich hundertprozentig auf Kevin verlassen und mich ganz aufs Rennfahrer konzentrieren.»
Der zentrale Punkt aber ist das «Erbringen von Sportdienstleistungen». Was sperrig tönt, ist ganz einfach: für sportlichen Erfolg sorgen. Und der ist bemerkenswert und muss es sein: Als Fahrer in der Moto2-WM genügten Klassierungen in den ersten 15 für gute Medienpräsenz. Siege und Podestplätze waren nicht erforderlich, um im Gespräch zu bleiben. Aber nun braucht es Siege, um im Geschäft zu bleiben. 2021 hat Dominique Aegerter die Supersport-WM gewonnen und diese Saison dominiert er als Titelverteidiger diesen Wettbewerb wie nie zuvor ein Pilot: Neun Siege in Serie. Kevin Aegerter fragt: «Wissen Sie von einem anderen Schweizer, der in einer WM neun Wettbewerbe hintereinander gewonnen hat?» Nein, auf Anhieb können wir keinen nennen.
Aber die Supersport-WM findet ausserhalb des GP-Fahrerlagers statt. Praktisch ohne mediale Beachtung. Es ist in der Hierarchie die fünfthöchste Töff-WM-Klasse nach der MotoGP-, Moto2, Moto3- und Superbike-WM. Die TV-Präsenz holt sich Dominique Aegerter in einem anderen Wettbewerb, den er – wie die anderen GP-Haudegen – anfänglich als «Rasenmäher-Rennen» geringgeschätzt hat: Im MotoE-Weltcup. Einer Rennserie auf Batterie-Töffs, die als «grünes Feigenblatt» im GP-Rahmenprogramm über die Bühne geht und vom staatstragenden Fernsehen SRF regelmässig gezeigt wird. Dort hat er auch deshalb einen Platz, weil er in der Supersport-WM beweist, dass er nach wie vor ein Siegfahrer ist.
Dominique Aegerter dominiert auch die Rennen auf den leise surrenden «Batterie-Elefanten», 90 Kilo schwerer als die Höllenmaschine der MotoGP-Klasse. Er hat beste Chancen, als erster Schweizer der Geschichte (seit 1949) zwei Töff-Wettbewerbe auf höchstem Level zu gewinnen: Die Supersport-WM und den MotoE-Weltcup. Längst hat die Startnummer 77 Kultcharakter, so wie die Nummer 46 von Valentino Rossi.
Die geschickte Pflege der Startnummer 77, die zu einem Markenzeichen geworden ist, das Image eines skandalfreien, sanften Rock’n’Rollers, die natürliche Bescheidenheit und Liebenswürdigkeit machen Dominique Aegerter zu einem perfekten, charismatischen Werbeträger und Botschafter für Firmen. Vor einem Monat hat sein Uhrensponsor Edox eine spezielle Edel-Uhr lanciert: Nur 77 durchnummerierte Stück. Das Exemplar kostet mehr als 1000 Franken. Mehr als 50 sind bereits verkauft. Was uns zeigt: Dominique Aegerters Zeit ist noch lange nicht abgelaufen.
Aus dem Monatsmagazin WURZEL