Die Töff-Saison hat für Tom Lüthi am Mittwoch begonnen. Mit den ersten offiziellen, dreitägigen Tests der Moto2-Klasse im andalusischen Jerez. WM-Punkte gibt es noch keine. Aber die Titanen begegnen sich zum ersten Mal. Es gibt keine Ausreden und keine optimistischen Zeitschätzungen mehr bei den Rundenzeiten.
Wer bei diesen Tests nicht vorne dabei ist, kann den Rückstand während der Saison nie mehr richtig aufholen. Wer um den Titel fahren will, setzt hier ein erstes Zeichen. Ein bisschen «Psychokrieg». Wie beim Wägen der Boxer vor dem Kampf.
Nicht die absolute Spitzenzeit zählt, herausgefahren mit extra weichen Reifen am Limit zur Todeszone, zählt. Sondern die Konstanz, die Fähigkeit auf sehr hohem Niveau schnelle Runden aneinanderzureihen. Mit Pneus, die ein ganzes Rennen halten.
Genau das hat Tom Lüthi an den zwei ersten Testtagen getan. Die viertschnellste Zeit, die er über mehr als zehn Runden regelmässig wiederholt hat. Locker. Ohne zu forcieren.
Das ist erstaunlich. Denn Tom Lüthi ist alt genug, um eine Legende zu sein. Er hat seinen ersten GP 2005 gewonnen, im gleichen Jahr ist er Weltmeister geworden (125 ccm).
Es gibt nur zwei Fahrer, die damals schon siegten und auch letzte Saison noch Rennen gewonnen haben und wieder ganz vorne erwartet werden: Tom Lüthi und der gleichaltrige Andrea Dovizioso. 16 Jahre lang ein Siegfahrer – die Bezeichnung «Legende» passt.
Tom Lüthi ist der grosse alte Mann seiner Klasse. Die Stars ziehen Jahr für Jahr an ihm vorbei, hinauf in die Königsklasse MotoGP. Er aber ist geblieben. Alex Marquez und Brad Binder, die ihm letzte Saison vor dem Gewinn des WM-Titels standen, fahren jetzt auch ganz oben. Ausser gegen Valentino Rossi ist er in der Moto2-WM gegen die meisten schon gefahren, auch gegen den Titanen Marc Marquez.
So kommt es, dass Lüthi von Jahr zu Jahr und auch jetzt sozusagen automatisch die Favoritenrolle zufällt. Nach dem missglückten MotoGP-Abenteuer (2018) ist er inzwischen mit sich und seiner Karriere im Reinen und konzentriert sich ganz auf die Moto2-WM.
Aber jedes Jahr ist ihm in der Moto2-Klasse jemand doch vor der Sonne gestanden. Zweimal (2017 und 2018) ist er WM-Zweiter hinter Johann Zarco geworden. Letzte Saison WM-Dritter hinter Alex Marquez und Brad Binder. Reicht es jetzt?
Lüthi ist optimistisch. Er ist besser und schon viel weiter als vor einem Jahr nach der Rückkehr aus der Königsklasse MotoGP. «Ich fühle mich fit wie noch nie und die Motivation stimmt auch.» Keine Schmerzen, wenn er am Morgen aus dem Bett steigt. Mit intensivem Training hat er die Blessuren aus mehr als 15 Jahren Rennsport «wegtrainiert».
Er ist so fit wie seine jungen Herausforderer. Nach diesen ersten aussagekräftigen Tests zeichnet sich ab: diese Herausforderer werden in einzelnen Rennen triumphieren. Aber Tom Lüthi hat die Erfahrung und die Konstanz, um am Ende die WM zu gewinnen. Oder noch einfacher gesagt: wenn er nicht mehr als einen «Nuller» schreibt (ein Rennen ohne WM-Punkte) – dann ist er Weltmeister.
Der Emmentaler wird im September 34 Jahre alt und ist noch kein bisschen müde. Er denkt über die Saison hinaus: «Das Ziel ist eine Verlängerung mit dem bisherigen Team um zwei Jahre.» Bis und mit der Saison 2022 traut er sich zu, ganz vorne zu fahren. Er steht vor einem goldenen Karriere-Herbst.
Sein Freund und Manager Daniel M. Epp bestätigt die Gespräche um die vorzeitige Verlängerung des Vertrages. «Ich gehe davon aus, dass wir uns bereits im Sommer einig werden.» Also lange vor dem Saisonschluss im November.
Frühe Klarheit ist ein wichtiger Faktor im anstehenden Kampf um den WM-Titel. Alle Spekulationen und Zukunftssorgen für den Piloten fallen dann weg. «Das vereinfacht die Arbeit.»
Mit dem Bekenntnis zum Team des deutschen Batterie-Herstellers Dynavolt und dem Wunsch um eine Verlängerung der Zusammenarbeit bis und mit der Saison 2022 rennt Tom Lüthi offene Türen ein. Es gibt keinen deutschsprachigen Piloten, der auch nur annährend seine Klasse, Konstanz und Medienpräsenz erreicht. Der deutsche Marcel Schrötter (27) ist der perfekte Teamkollege: sehr schnell in einzelnen Runden und dazu in der Lage, bei der Datenbeschaffung nützlich zu sein. Aber mental so zerbrechlich, dass er sein Talent einfach nicht in Resultate ummünzen kann. Lüthi hatte letzte Saison bis zum zweitletzten Rennen Titelchancen (er erreichte den 3. Schlussrang) und Schrötter kam im Gesamtklassement bloss auf Platz 8.
In Jerez fährt auch Jesko Raffin (23) im holländischen NTS-Team von Jarno Janssen. Er steht nach zwei Tagen unter 28 Piloten auf Position 25. Durchgeschüttelt von zwei Stürzen am Donnerstag – beide Male übers Vorderrad – ist er erst einmal froh, dass nichts passiert ist. «Ein bisschen Schmerzen, aber sonst bin ich okay.» Das Ziel ist vorerst bescheiden: Die Tests am Freitag zu einem guten Ende zu bringen.
Raffin hat bei seinem Team einen Zweijahresvertrag. Siege und Podestplätze werden von ihm nicht erwartet. Aber regelmässige Klassierungen in den Punkterängen (1. bis 15. Platz). Es bleibt viel zu tun und er wird mit ziemlicher Sicherheit für weniger Gesprächsstoff sorgen als Dominique Aegerter (29).
Aegerter? Ja, er ist – zumindest aus Schweizer Sicht – der grosse Abwesende. Er fehlt zum ersten Mal überhaupt bei diesen Vorsaisontests in Jerez. Er war seit der ersten Moto2-WM 2010 stets dabei, hat aber nach der letzten Saison wegen ungenügenden Resultaten (WM-22.) den Startplatz in der zweitwichtigsten WM verloren. Aber fünf Jahre lang (2013 bis 2017) war er Tom Lüthis Herausforderer und einmal (2013) hat er sich im Schlussklassement (5.) vor seinem Rivalen klassiert.
Er tanzt zwar diese Saison nicht mehr auf der ganz grossen Bühne. Aber auf so vielen sonstigen Hochzeiten, dass er immer wieder für Gesprächsstoff sorgen wird. Weil er bei den offiziellen Moto2-Tests in Jerez als Testfahrer nicht zugelassen ist, hat er Zeit, in diesen Tagen als Stargast bei der Töff-Messe «Swiss Moto» in Zürich aufzutreten.
Soeben hat der charismatische Rock'n'Roller von Honda einen Vertrag als Test- und Ersatzfahrer für die Superbike-WM unterschrieben. Sollten die dortigen Stars Leon Haslam oder Alvaro Bautista ausfallen, so kommt der Rohrbacher zum Zuge. Und die 8 Stunden von Suzuka darf er für Honda auch fahren. Zudem ist er diese Saison auch Ersatzfahrer in Lüthis Team und bestreitet den Weltcup mit den elektrischen Bikes.
Kann er bei so vielen Engagements den Überblick behalten? «Ja natürlich. Der Job als Ersatzfahrer im Team von Tom Lüthi und der E-Weltcup haben Priorität.» Als Testfahrer wird er von Honda mit einem Salär beglückt. Kann er davon leben? «Nein, obwohl ich keinen teuren Lebensstil pflege.»
Alle seine Jobs sind auf ein Jahr ausgelegt. Auf den boshaften Einwand, er könne ja nach seiner Töff-Karriere ins Dschungelcamp einrücken, ist er um eine Antwort nicht verlegen: «So, so. Warum nicht eine Rolle als Bachelor? Ich habe ja noch keine Freundin. Oder warum nicht Porno-Star …?»
Die boshaft gestellte Frage ist eigentlich als Kompliment gemeint. Aegerter ist als begabter Selbstdarsteller und «Hexenmeister» der sozialen Medien eine von den nachlassenden Leistungen weitgehend unabhängige «Marke» geworden. Er dürfte deshalb diese Saison als Test-, Ersatz- und Elektrotöff-Pilot diese Saison ähnlich viel Medienpräsenz wie Tom Lüthi erreichen. Vom Rennfahrer zum «Marketing-Produkt».
Und kein Schelm, wer wettet, dass er dereinst nach seiner Töffkarriere eben doch ins Dschungel-Camp einrücken wird.