Kann man barfuss und nur mit Kappe und Badehose bekleidet im Winter fünf Kilometer auf einem schneebedeckten Weg rennen? Andri Ragettli wollte es herausfinden. Weil er gerade Zeit hatte – und vor allem, weil er Herausforderungen liebt. Also begann er zu trainieren. Einige Tage – dann lief er los. Und weil es sich nach fünf Kilometern so gut anfühlte, verdoppelte er spontan die Distanz.
Wer von Andri Ragettli erzählen will, landet schnell auf Instagram oder Youtube. Seine Videos erreichen teils Millionen. Zum Beispiel, wenn er ohne den Boden zu berühren, immer verrücktere Hindernisstrecken bewältigt. The floor is lava – der Boden ist Lava – nennt sich das Spiel.
Selbst Tennisspieler Novak Djokovic meldete sich einst, um Tipps zu erhalten, wie Ragettli das macht. Und Real Madrid widmete dem Schweizer sogar einen eigenen Beitrag, weil den Königlichen nicht entgangen war, dass sich Ragettli seinen Herausforderungen oft in einem Fussballtrikot seines Herzensvereins stellt.
Bei alledem geht fast vergessen, was der 23-Jährige eigentlich ist: ein Spitzensportler. Einer mit besonders grossem Ehrgeiz und einer, der fleissiger ist als viele andere. Darum macht es Andri Ragettli auch ein wenig wütend, wenn er auf die Rolle als Social-Media-Star reduziert wird, wie er der «NZZ am Sonntag» in einem Interview verriet: «Das ist respektlos. Zu 85.90 Prozent bin ich Sportler, und nebenbei mache ich noch ein wenig Social Media.»
Als Kind war Andri Ragettli ein talentierter Alpin-Skifahrer und auch als Fussballer durchaus begabt. Doch der Bündner fand seine Leidenschaft schliesslich auf den Schanzen.
Es wurde Ragettlis Mission, das Gegenteil zu beweisen. Und er verfolgt sie, indem er immer zehn Prozent mehr macht als erforderlich. Genau wie eines seiner grossen Vorbilder, der Fussballstar Cristiano Ronaldo.
Am kommenden Dienstag will Ragettli im Slopestyle – es ist eine Sportart, in der die Athleten über diverse Schanzen springen und dabei Schrauben und Salti kombinieren – eine Olympiamedaille gewinnen. Im Big Air (nur ein Sprung) hatte er die Qualifikation für den Final verpasst.
Vor vier Jahren wurde Ragettli an den Olympischen Spielen in Südkorea bereits einmal als Favorit gehandelt – und klassierte sich auf Rang sieben. Es flossen Tränen. «Wenn ich zurückdenke, muss ich sagen, dass ich damals auf den Rails (Geländerstangen, die von den Athleten befahren werden; die Red.) Schwächen hatte. Aus diesen Schwächen habe ich aber mittlerweile eine Stärke gemacht.»
Vor einem Jahr wurde Ragettli im Slopestyle Weltmeister. Drei Tage später stürzte er im Big Air und zog sich einen Kreuzbandriss im linken Knie zu. Erst Mitte Januar gab er sein Comeback im Weltcup – und siegte sogleich. Eine Woche später gewann er an den X-Games Gold, ebenfalls im Slopestyle. Das Verpassen des Big-Air-Finals an den Olympischen Spielen war ein leichter Dämpfer. Im Slopestyle wäre es ein Drama.
Als Ragettli zum virtuellen Gespräch erscheint, trägt er eine Kappe der Schweizer Delegation mit vielen Anstecknadeln daran. «Langsam wird sie schwer», sagt er und lacht. «Wir waren zwei Tage im olympischen Dorf und viel kann man dort derzeit (aufgrund der strengen Coronaregeln; die Red.) ja sonst nicht machen.» Also suchte er eine Herausforderung und sammelte möglichst viele Pins von anderen Nationen.
Diese Challenges, wie er sie bezeichnet, sucht Ragettli immer wieder. Besonders während der Rehabilitation nach dem Kreuzbandriss, die länger dauerte und komplizierter war als erhofft, forderte er sich auf neuen Wegen heraus. «Normalerweise bereite ich mich rund vier Monate auf Schnee auf eine Saison vor. Jetzt waren es nur sechs Wochen.»
So blieb neben dem Krafttraining und den Einheiten beim Physiotherapeuten Zeit für verrückte Dinge. Zum Beispiel zum eingangs erwähnten Joggen barfuss auf Schnee. Oder auch für ein 30-minütiges Bad im gefrorenen Caumasee in Films.
Ragettli verhehlt nicht, dass er mit diesen Aktionen Reichweite in den sozialen Medien erzielen will. Und dass er, wenn er es wollte, längst als Influencer noch mehr Geld verdienen könnte. Doch Ragettli geht es auch um etwas anders: Er will mit seinen Videos die Aufmerksamkeit auf seinen Sport lenken. Dass er dabei gut verdient – und so beispielsweise seinen Bruder Gian als Filmer und Content-Manager dabei haben kann –, ist ein willkommener und gewollter Nebeneffekt der Videos.
Mit einer Olympiamedaille würde er den Sport in den Fokus rücken. Das ist Andri Ragettlis Hauptziel. Die Slopestyle-Qualifikation findet am Montagmorgen ab 05.30 Uhr (Schweizer Zeit) statt, die Finals in der Nacht auf Dienstag ab 02.30 Uhr. (aargauerzeitung.ch)