Jede Analyse beginnt und endet mit dem Torhüter. Das mag gerade im Eishockey, dem letzten wahren Teamsport, ungerecht sein. Aber es ist eben so, wie es ist: Der Goalie macht die Differenz. Erst recht auf diesem Niveau.
Bisher hat Patrick Fischer immer dann, wenn es nur Sieg oder Ausscheiden gibt, Leonardo Genoni vertraut. Bei der WM 2018 im Viertelfinal, im Halbfinal und im Final. Bei der WM 2019 und 2021 (Niederlagen im Viertelfinal) und schliesslich hier im Achtelfinal gegen Tschechien.
Leonardo Genoni war auf diesem Niveau in einem entscheidenden Spiel noch nie der Grund für die Niederlage. Aber mehrmals der Grund für den Sieg. Zuletzt am Vortag beim 4:2 im Achtelfinal gegen Tschechien.
Aber Patrick Fischer hat gegen Finnland Reto Berra vertraut. Was er auch für Gründe für diesen mutigen Wechsel haben mag – er hat falsch entschieden. Das mag hinterher eine billige Kritik sein. Weil hinterher jeder alles besser weiss.
Aber in diesem Falle war eigentlich schon vorher klar: Wer mutwillig auf einen Leonardo Genoni verzichtet, der gerade in Hochform den grossen Sieg gegen Tschechien ermöglicht hat und bei diesem Turnier eine Fangquote von über 95 Prozent aufweist, darf sich hinterher bei den Hockey-Göttern nicht beklagen.
So kommt Reto Berra zu seinem ersten ganz grossen Auftritt auf der internationalen Bühne, seit er 2013 die Schweiz im Halbfinal gegen die USA (3:0) in den Final gehext hat.
Nein, die Schweizer haben gegen Finnland nicht wegen Reto Berra verloren. Aber eben auch nicht seinetwegen gewonnen. Punkt.
Nach dem dritten Gegentreffer holt Patrick Fischer Reto Berra vom Eis (24. Minute) und ersetzt ihn durch Leonardo Genoni. Der Meistergoalie wird keinen Treffer zulassen.
Das 1:4 fällt, als Leonardo Genoni seinen Arbeitsplatz verlassen hat. Weil Patrick Fischer richtigerweise in einem Powerplay früh alles auf eine Karte setzt und mit sechs Feldspielern das 2:3 anstrebt (56.). Und das 1:5, als es der Nationaltrainer dann doch etwas übertreibt und noch einmal den Torhüter durch einen sechsten Feldspieler ersetzt (57.) Die Schweizer gehen mit fliegenden Fahnen unter.
Wenn unser Nationaltrainer in einem Olympischen Viertelfinal den Torhüter kurz nach der ersten Pause wechselt, dann ist alles verloren. So wie wenn jemand die Stalltüre zusperrt, wenn die Pferde schon davon galoppiert sind. Das letzte Drittel wird später zeigen, dass in diesem Spiel sehr viel mehr möglich gewesen wäre – aber da steht es schon 1:3.
Patrick Fischer hat ein ewiges, ehernes Gesetz des Eishockeys gebrochen. Es heisst: «Never change an winning team.» Niemals eine siegreiche Mannschaft umstellen. Schon gar nicht auf der Torhüterposition.
Patrick Fischer hat es gewagt. Er hat das Schicksal herausgefordert. Die Hockeygötter haben ihn dafür bestraft.
Den Finnen gelingt in diesem Viertelfinal eine nahezu perfekte Partie: Kontrolle des Spiels. Keine Risiken. Aber blitzschnelles Erfassen jeder Chance zum Konter.
Scheibenverluste in der neutralen Zone sind «tödlich». Sie bringen die vorwärts stürmende Mannschaft für Sekunden aus dem Gleichgewicht. Und bevor die Balance wieder gefunden ist, läuft der Konter.
Gaëtan Haas verliert den Puck in der neutralen Zone und der schnelle Gegenangriff führt zum 0:1. Auch deshalb, weil Reto Berra den Puck abprallen lässt.
Diese Kombination der Unzulänglichkeiten (Scheibenverlust in der neutralen Zone, Abpraller) kumuliert zum fatalen ersten Gegentreffer. Fatal deshalb, weil nun die Finnen das Drehbuch schreiben. Noch bessere Kontrolle des Spiels. Noch mehr Schablone. Noch mehr Geduld. Noch weniger Raum und Zeit für die Schweizer.
Gegen Finnland einen Rückstand aufholen, ist so ziemlich das Schwierigste, was es im internationalen Hockey gibt. Erst recht, wenn die NHL-Stars nicht dabei sind und die Taktik eine noch grössere Rolle spielt.
Das frühe 0:1 (9. Min.) trägt bereits den Keim der Entscheidung in sich. Ohne die Spieler aus der NHL fehlt den Schweizern auf diesem Niveau ein «Game Breaker». Ein Spieler, der offensiv die Differenz machen kann. Womit wir beim nächsten wichtigen Faktor angelangt sind.
Es hat nicht nur ganz hinten bei den Goalies gefehlt. Noch mehr hat es ganz vorne gefehlt. Wo war Grégory Hofmann? Wo war Denis Hollenstein? Wo war Gaëtan Haas? Wo war Denis Malgin? Wo war Fabrice Herzog? Wo war Simon Moser? Wo war Sven Andrighetto?
Die offensiven Könige der heimischen Rinks waren vor dem gegnerischen Tor die Bettler von Peking. Die bitterste Enttäuschung ist Grégory Hofmann. Weil er das Talent (Tempo, Schusskraft) hat, um auf internationalem Niveau die Differenz zu machen. Wenn er nicht trifft – wer dann?
Denis Hollenstein braucht zur Entfaltung seiner spielerischen Herrlichkeit mehr Raum und Zeit. Das kleinere Eisfeld hat ihn eingeengt.
Gaëtan Haas war ein zäher Leitwolf. Aber ihm fehlt die Explosivität für dieses Niveau.
Fabrice Herzog ist ein Fehlaufgebot und Simon Moser verdankt seine Nomination seiner Arbeitseinstellung, seinen Verdiensten (ein Leitwolf in den Silberteams von 2013 und 2018) und seiner Postur. Für grosse Taten auf internationalem Niveau ist er inzwischen zu langsam.
Denis Malgin hat die zwei ersten Spiele nach einem positiven Corona-Test verpasst und dann hat er auch kein Glück: In der 42. Minute gegen Finnland trifft er den Pfosten, statt zum 2:3. Vielleicht hätte ein Treffer zu diesem Zeitpunkt noch etwas bewirken können.
Sven Andrighetto bleibt im Niemandsland zwischen Selbstvertrauen und Selbstzweifel stecken. Ein «Sniper» ist ohne Selbstvertrauen wirkungslos.
Nur Andres Ambühl hat sein Potenzial vollumfänglich ausgeschöpft. Mit 38 Jahren der älteste – und noch immer die beste Kombination aus Tempo, Beweglichkeit und Schlauheit. Er ist mit zwei Treffern unser bester Torschütze.
Wir sehen also: Die Schweizer sind in erster Linie vorne gescheitert. Und weil gegen Finnland auch hinten (Reto Berra) nicht alles stimmte, reichte es gegen Finnland nicht.
So endet die Peking-Expedition mit dem Ausscheiden im Viertelfinal und einer statistischen bedenklichen Bilanz: Vier Niederlagen (0:1 Russland/1:2 n.P Tschechien/3:5 Dänemark/1:5 Finnland) und einem einzigen Sieg (4:2 Tschechien im Achtelfinal).
Aber die Statistik sagt nicht die ganze Wahrheit. Der Halbfinal war das immer wieder und vielleicht etwas zu oft verkündete, hinausposaunte Ziel. Wenn unter diesen Voraussetzungen ein Ziel nicht erreicht wird, ist die Versuchung gross, boshaft von Maulhelden zu reden.
Die Schweizer nun als Maulhelden zu bezeichnen, wäre tatsächlich boshaft. Ja geradezu bösartig. Sie waren besser, als es die Statistik vermuten liesse. Sie siegten im Achtelfinal gegen einen Grossen (Tschechien). Bei einer WM folgt nach den Gruppenpartien der Viertelfinal und ein Sieg gegen einen Grossen bringt den Halbfinal. So gesehen haben die Schweizer in Peking mit dem Viertelfinal den «gefühlten» Halbfinal erreicht.
Nach den drei Partien der Vorrunde hatte Patrick Fischer die Abstimmung gefunden, die Instrumente gestimmt. Seine Mannschaft war gut genug, um eine Medaillen-Sinfonie zu spielen. Aber es ist wegen der offensiven Bettler eine unvollendete geblieben.
Die Ausgeglichenheit auf internationalem Niveau ist gerade dann, wenn die NHL-Stars fehlen, so gross wie noch nie. Deutschland, der Finalist von 2018, und Tschechien, Olympiasieger von 1998, sind schon im Achtelfinal gescheitert. Die USA, Olympische Finalisten von 2002 und 2010, sind gleich weit gekommen wie die Schweizer.
Es ist, wie es ist: Eine Olympische Medaille war nahe. So nahe wie noch nie seit 1948. Aber eben doch so ferne.