Von der Gondelbahn aus, die zum Zielgelände der Alpinen führt, ist im TV-Fuhrpark ein grosser Lastwagen mit dem Logo unseres öffentlich-rechtlichen Fernsehens zu sehen. Tatsächlich ist dieser Laster aus der Schweiz auf dem See- und Landweg hierher geschafft worden.
Niemand versteht es so gut Skirennen fürs Fernsehen zu produzieren wie unsere Bildingenieure vom Leutschenbach. Deshalb stellen sie seit Anbeginn der Zeiten bei den Olympischen Spielen die Ski-Bilder her. Auch für Peking 2022.
Dieser TV-Lastwagen verwirrt den Chronisten ein wenig. Er denkt: Wo bin ich denn eigentlich? Irgendwo hat er gelesen, China stehe im Klassement, das die Medienfreiheit abbildet, irgendwo zwischen Rang 170 und 180. Schlimm. Hier muss das Medienleben ein garstiges sein. Aber ist das so?
Nehmen wir einmal an, der Chronist hat von allem keine Ahnung. Er hat zwar China bis hinauf nach Tibet bereist und war auch 2008 für die Sommerspiele in Peking. Aber jetzt blendet er einfach alles aus, was war und berichtet nur, was er hier und heute sieht und erlebt. Keine ideologischen Scheuklappen. Keine politische Mission. Einfach nur schreiben, was ist. So wie es uns Spiegel-Gründer Rudolf Augstein gelehrt hat.
Ein Land, das die TV-Macher aus der freien, basisdemokratischen Schweiz hereinlässt, um Bilder für die ganze Welt zu produzieren, ist sicherlich auch ein freies, basisdemokratisches.
Natürlich kann der Chronist den Archipel Olympia, die olympische Blase nicht verlassen. Aber dazu hat er sowieso keine Zeit. Und hätte es bei Spielen in einem anderen Land auch nicht. Er ist vor Ort, um über olympische Dramen und Triumphe zu berichten.
Bessere Bedingungen hat es noch gar nicht gegeben. So viel Platz auf Medientribünen und an den Schreibtischen der Medienzentren war bei einem internationalen Grossanlass noch nie. Wegen der Pandemie müssen Abstände eingehalten werden. Was für jeden einzelnen mehr Platz schafft.
Die geschlossene Welt auf dem Archipel Olympia hat noch einen Vorteil: Der Chronist kommt gar nicht in Versuchung, sich zu amüsieren. Es gibt nur das Essen im Hotel und in den Medienzentren. Keine Auswahl an feinen Restaurants in der Stadt. Keine Peking-Ente. Keine Bar. Keine Jazzlokale. Kein Nachtleben. Keine Ablenkung. Arbeiten und Schlafen. Calvinismus pur. So leicht war es noch nie, sich auf die Arbeit zu konzentrieren und nicht zu sündigen.
Die Kommunikationskanäle in die Welt hinaus sind alle sperrangelweit offen. Im Netz kann der Chronist jede Seite abrufen, die er will. Die Internetverbindungen funktionieren überall. Im Bus. In der Eisenbahn. Im Hotel. In den Medienzentren. Sie sind kostenlos, schnell und störungsfrei.
Die Infrastruktur könnte besser nicht sein. Von Zensur keine Spur. Freiwillige Helferinnen und Helfer, alle natürlich maskiert, einige in Raumanzügen, eilen herbei wie Heinzelmännchen, um zu Diensten zu sein. Freies, demokratisches, medienfreundliches China.
Die Rechnung geht für China auf. Und sie wird erst noch vom Ausland bezahlt. Peking 2022 – das ist der grösste Propaganda-Erfolg in der Geschichte des Sportes.
China gilt als «böse». In der westlichen Welt überwiegt eine kritische Berichterstattung über dieses Land.
Und nun entsenden die grossen Medienkonzerne aus aller Welt ihre besten Chronistinnen und Chronisten, Kommentatorinnen und Kommentatoren, Fotografinnen und Fotografen, Kamerafrauen und Kameramänner, Regisseurinnen und Regisseure auf eigene Kosten nach Peking. Um zwei Wochen lang aus China rund um die Uhr wunderschöne Bilder, profunde Analysen und lüpfig geschriebene Texte über fröhliche Menschen, friedliche Wettkämpfe, eine perfekt funktionierende Technik aus China in alle Welt zu verbreiten. In der Gesamtsumme dürften all diese Bilder und Eindrücke ein positives, weil von sportlichen Emotionen geprägtes China-Bild vermitteln. Mit der versteckten Botschaft: «China rules the world.»
Die Medienkonzerne investieren eben nicht Milliarden in TV-Rechte, sie fliegen ihre besten Sendboten nicht nach Peking, um über Menschenrechtsverletzungen und sonstige Missstände zu berichten, die Welt aufzuklären und aufzurütteln. Es geht um Unterhaltung, um Einschaltquoten, um Klickzahlen. Ums Business – stupid! Oder in zwei Worten: Money talks.
Ein bisschen Kritik muss natürlich auch sein. Um die ganze Berichterstattung ein wenig intellektuell zu würzen. Die kann man notfalls auch daheim in den Schreibstuben machen lassen. Die Kritik trifft ohnehin meistens nicht China und sein politisches System. Sondern Mauscheleien rund um Wettkämpfe und die Herren der Ringe vom IOC, die freiwillig die Spiele nach Peking vergeben haben und den Schwefelgeruch der Korruption nicht loswerden.
Im Zentrum stehen sportliche Taten, Triumphe und Tragödien. Und die, die wir hier sind können ja mit eigenen Augen und Ohren gar nichts anderes sehen und hören. Und wenn es ein beklemmendes Gefühl, ein Unbehagen gibt – dann nicht wegen der politischen Situation in China. Sondern wegen der täglichen PCR-Tests. Gibt es ein positives Resultat, holen dich die Marsmenschen.
Kann die Wahrheit über China herausfinden, wer schreibt, was er hier vor Ort auf den Inseln des Archipels Olympia sieht und hört? Nein. Und es ist naiv anzunehmen, dass man das könnte. Und völlig unrealistisch, das zu verlangen. Weil es unmöglich ist.
Diese Medien-Blindheit ist nicht neu. Viele westliche Beobachter vor Ort in Moskau haben beispielsweise einst die Schauprozesse der «Ära Stalin» als Musterbeispiel einer unabhängigen, fairen Justiz geschildert, von dem die nichtkommunistische Welt viel lernen könne. Und die haben damals auch nur nach bestem Wissen und Gewissen berichtet, was sie sehen und hören konnten. Oder haben die ausländischen Chronistinnen und Chronisten vor Ort in Berlin bei den Olympischen Spielen 1936 den wahren Charakter des Regimes durchschaut? Wohl nicht.
Damit kein Missverständnis entsteht: Der Chronist vergleicht das China von heute nicht mit der Sowjetunion oder dem Deutschland der 1930er Jahre. Es geht nur um die Schwierigkeit, vor Ort die Wahrheit zu ergründen.
Zu glauben, die Medien seien heute dank neuen Technologien besser dazu in der Lage, die ganze Wahrheit zu finden, ist eine Illusion. Denn die Gegenseite, die ein Interesse daran hat, dass die Wahrheit nicht gefunden wird, verfügt über die gleichen Technologien. Peking 2022 beweist es gerade.
Diese Reise im Februar 2022 nach Peking ist auch eine Reise ins Absurdistan der Medienwelt.
Willst du uns ernsthaft damit sagen, dass Journalisten nicht in der Lage sind, über den Tellerrand hinaus zu schauen?
Da stimme ich Ihnen zu Herr Zaugg. Passt zwar nicht genau zum Thema, aber viele Menschen glauben ja auch dass sie jetzt nun im Internet "dIe gANZe waHrHeiT!!!" finden werden. Weil ja dort alle so unabhängig und frei sein sollen und stolze Ritter der Medienfreiheit sind.