Das Timing grenzt an Realsatire. Kurz bevor das Internationale Olympische Komitee (IOC) vor dem Internationalen Sportgerichtshof in Lausanne (CAS) die grösste Niederlage in der Geschichte erleidet, verbreitet die eigene Kommunikationsmaschinerie über verschiedene Medienkanäle ein Video, in welchem sich IOC-Präsident Thomas Bach über die roten Bettdecken und die guten Duschen in den Athletenunterkünften von Pyeongchang freut. Die Sportwelt des IOC erscheint in dieser Videobotschaft in bester Ordnung und voller Vorfreude.
Doch das Schiedsgericht in Lausanne, bezeichnenderweise 1984 auf Initiative des IOC ins Leben gerufen, spielt für einmal nicht mit. Es hebt in zwei Dritteln der Fälle die Urteile der IOC-Disziplinarkommission gegen insgesamt 43 russische Athleten auf. Die Beweise würden nicht ausreichen, um einen Verstoss gegen die Dopingregeln nachzuweisen.
Das IOC hatte im Rahmen seiner Untersuchungen gegen systematisches russisches Doping bei den Olympischen Spielen 2014 in Sotschi diese Sportler des Dopingvergehens schuldig gesprochen, ihre Resultate aberkannt und sie lebenslänglich von Olympischen Spielen ausgeschlossen.
In elf Fällen stützten die Lausanner Richter den IOC-Befund, reduzierten das lebenslange Hausverbot bei Olympia aber auf eine Sperre für Pyeongchang. Nach dem für viele überraschenden Urteil bleiben mehrere Fragen wenige Tage vor der Eröffnungsfeier in Pyeongchang offen.
Das CAS hat gestern erst die Urteile bekannt gegeben. Eine konkrete Begründung in jedem einzelnen Fall wird nachgeliefert. Das kann mehrere Wochen dauern. Vertraulichen Informationen von Insidern ist aber zu entnehmen, dass mehrere vom IOC als stichhaltige Fakten angesehene Punkte vom Sportgericht nicht als direkte, für sich allein schlüssige Beweise anerkannt wurden.
So etwa das Erscheinen eines Athleten auf der sogenannten «Duchess-Liste» (Athleten, an die ein spezieller Doping-Cocktail abgegeben wurde), Mails aus dem umfangreichen Datenarchiv von Kronzeuge Grigori Rodtschenkov – und überraschend auch die Kratzspuren bei den Dopingfläschchen. Das CAS hielt nur die Sperren gegen jene Athleten aufrecht, deren Urin nachweislich manipuliert wurde.
Auch die Aussagen von Rodtschenkow bei der telefonischen Befragung vor Gericht spielten eine Rolle. Er musste zugeben, keinen direkten Kontakt zu Athleten oder Trainer gehabt zu haben. Auch konnten seine Aussagen zum nächtlichen Austausch von Urinproben im Labor von Sotschi durch den russischen Geheimdienst in mehreren Fällen als «nicht möglich» widerlegt werden, da die Proben noch am selben Tag analysiert wurden. Nicht hilfreich war auch, dass mehrere Belastungszeugen anonym aussagten.
Ja, das Urteil könnte ans Schweizer Bundesgericht weitergezogen werden. In seinem Communiqué erwähnt das IOC die Prüfung dieser Möglichkeit explizit. Allerdings wäre dies ein gewaltiger Schuss ins eigene Bein, weil das IOC bislang mit Nachdruck auf die eigene Sportgerichtsbarkeit pochte und kein Verständnis für Athleten oder Verbände zeigte, welche das Bundesgericht anriefen. Zudem beurteilt das Bundesgericht lediglich Verfahrensfehler und nicht das Urteil selbst.
Das IOC beharrt darauf, dass Russland von den Spielen ausgeschlossen worden sei und russische Athleten nur auf spezielle Einladung durch eine IOC-Kommission als neutrale Athleten antreten dürfen. Die 28 vom CAS freigesprochenen Sportler müssen eine allfällige Nicht-Berücksichtigung vor dem Ad-hoc-Ausschuss des CAS erstreiten – gemäss juristischen Fachleuten mit hervorragenden Aussichten auf Erfolg.
In einigen Fällen sorgten die Urteile für kuriose Situationen. So bleiben Bob-Olympiasieger Alexander Zubkow und einer seiner Anschieber gesperrt, die beiden weiteren Mitfahrer im Viererbob werden hingegen freigesprochen.
Auch hier bleibt das IOC vorderhand bei seinem Standpunkt, nur nachweislich «saubere Athleten» zuzulassen. Allerdings erwartet man beim Ad-hoc-Ausschuss in den nächsten Tagen eine Flut von Klagen russischer Athleten. «Das IOC hat das Gefühl, die Olympischen Spiele seien seine Party. Aber das Kartellrecht widerspricht dieser Meinung diametral», sagt ein Rechtsexperte. Bisher wurden 169 russische Starter bestätigt. Am Schluss könnte sogar die bisher grösste Delegation an den Heimspielen 2014 in Sotschi (223 Athleten) übertroffen werden.
Nein. Im Gegensatz zu den einzelnen Athleten hat das Olympische Komitee Russlands seinen Ausschluss nicht vor dem CAS angefochten. Der auf der Untersuchung von Altbundesrat Samuel Schmid basierende Entscheid des IOC bleibt deshalb bestehen. Der Verzicht auf einen Rekurs sei Teil einer vorgängigen Absprache zwischen IOC-Präsident Thomas Bach und den Russen gewesen, sagt ein Insider ausdrücklich.
Das ist schwierig abzuschätzen. Bei den Wintersportverbänden wie der FIS sieht man dem gelassen entgegen. Die von ihr ausgesprochene «provisorische Suspendierung» der Athleten wurde vom CAS gestützt und unterliegt weniger strengen Kriterien als eine definitive Sperre.
Auch Christof Wieschemann, der Anwalt von mehreren russischen Langläufern, glaubt nicht an «massenhafte» Klagen. Er sagt aber klar: «Nachdem viele Athleten nun zu Unrecht um zwei Saisons ihres ohnehin kurzen Sportlerlebens gebracht worden sind, kann es nicht ausreichen, sie einfach wieder starten zu lassen. Da muss mehr kommen.»
Sportjuristen sind sich einig, dass dem nicht so ist. Dass es neben den Indizien für ein Dopingsystem immer auch die Einzelfall-Gerechtigkeit brauche. Das CAS hält in seinem Urteil übrigens explizit fest, dass es nicht den Auftrag hatte, den Vorwurf des systematischen Dopings in Russland zu beurteilen. Gefordert werden von Fachleuten für die Zukunft eine von den grossen Verbänden unabhängige Sportgerichtsbarkeit und griffigere gesetzliche Vorgaben für Ermittlungen gegen Doping, wie sie etwa im Bereich der Spielmanipulation in vielen Ländern bereits vorhanden sind.
Verschiedene Unzulänglichkeiten werden angeprangert. So könne es nicht sein, dass beim IOC der Schweizer Denis Oswald gleichzeitig Ermittler und Richter ist. Und bei der Urteilsfindung von zwei Nicht-Juristen assistiert wird. Oder dass Samuel Schmid unter den Beweisen für das systematische Doping der Russen den Hollywood-Dokumentarfilm «Icarus» aufführe.
Die Meinungen gehen weit auseinander. Von der Katastrophe für den Sport bis hin zum Beweis für die Unbestechlichkeit des CAS wird die ganze Bandbreite an Reaktionen abgedeckt. Jemand nannte das Urteil sogar «insgesamt einen Sieg für die Glaubwürdigkeit im Kampf gegen Doping», weil es die Willkür der IOC-Entscheide korrigiert hat.
Das IOC schreibt, dass es «einen bedeutenden Einfluss für den zukünftigen Kampf gegen Doping» hat. Die Tatsache, dass Russland durch das Urteil wieder die erfolgreichste Nation bei den Spielen in Sotschi ist, erscheint für viele wie ein schlechter Scherz. (aargauerzeitung.ch)