Ernährungsberater über Tücken des Proteinbooms: «High-Protein-Produkte sind ein Witz»
Am Zürcher Hauptbahnhof drückt ein junger Mann den Passanten eine PET-Flasche mit rosa Flüssigkeit in die Hand. Auf dem schwarzen Etikett steht in grossen Lettern: «High Protein Water – 15 Gramm!». Solche Produkte, mit denen Lebensmittelkonzerne um die Gunst der proteinverliebten Kundschaft buhlen, sind der letzte Schrei.
Savo Hertig ist Konditionstrainer bei Swiss Olympic und Ernährungsberater des Spitzenschwingers Fabian Staudenmann, der Schwinger Adrian Walther, Curdin Orlik, Lario Kramer und des Jungtalents Michael Moser. Er kennt sich also bestens aus mit Proteinen. Seine Meinung: «Ich verstehe den aktuellen Protein-Hype. Doch solche High-Protein-Produkte sind ein Witz – sowohl für Spitzensportler als auch für Otto Normalverbraucher.»
Zwar könnten Kraftsportler wie Schwinger Staudenmann ihren Bedarf tatsächlich nicht allein über normale Nahrung decken. «Es braucht Supplements. Aber die richtigen klug eingesetzt.»
Ein Überblick über Sinn und Unsinn des Proteinbooms.
Wie viele Proteine brauchen Schwinger?
«Schwingen gehört zu den anspruchsvollsten Sportarten überhaupt, was die Ernährung betrifft», sagt Savo Hertig. Die Athleten müssen Masse auf die Waage bringen – aber Muskelmasse, nicht Fett. «Dafür müssen wir richtig kämpfen. So viel Eiweiss lässt sich mit normalem Essen kaum abdecken.»
Zur Veranschaulichung: Fachgesellschaften empfehlen im Sport- und Fitnessbereich 1,2 bis 2,0 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht. Für einen 1,91 Meter grossen und 118 Kilo schweren Schwinger wie Fabian Staudenmann bedeutet das: 236 Gramm täglich – eine gewaltige Menge, umgerechnet rund vierzig Eier.
Nach intensiven Trainingseinheiten rät Hertig seinen Schwingerathleten deshalb zu einem Shake aus Kohlenhydraten und Eiweiss, um die Regeneration zu fördern. Denn auch Kohlenhydrate sind entscheidend: «Würde ein Schwinger nur reine Eiweissshakes trinken, würde nichts passieren – er würde höchstens die Muskelmasse erhalten, die er schon hat.» Einen zweiten Shake gibt es dann vor dem Schlafengehen, dann aber einen reinen Eiweissshake, damit die Wachstumsfaktoren wirken und die Muskulatur sich erholen kann.
Wie viele Proteine brauchen Nicht-Schwinger?
Die allgemeine Empfehlung für Erwachsene liegt bei 0,83 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht. Für über 65-Jährige, Schwangere und Stillende empfehlen sich zwischen 1 und 1,2 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht. (Hier geht's zu einem Proteinbedarf-Rechner.)
Wichtig ist: Mehr Eiweiss bringt nicht mehr. Was der Körper nicht unmittelbar brauche, baue er in Zucker oder Fett um, sagt Savo Hertig. Anderes ausgedrückt: Protein im Überfluss macht dick.
Und wer braucht High-Protein-Produkte?
Laut Hertig: Niemand. Viele dieser Produkte seien stark verarbeitet, enthielten Zucker, Süssstoffe, Aromen oder andere Zusätze. Besser sei es, sich selbst etwas zuzubereiten und auf naturbelassene Produkte zu setzen. Magerquark mit Kakaopulver etwa sei ein «sensationelles Dessert».
Hochwertige Proteinshakes, die bis zu 80 Gramm Eiweiss liefern, hält Hertig hingegen durchaus für sinnvoll – allerdings nur für Kraftsportler nach harten Einheiten, um die erste Phase der Proteinsynthese zu unterstützen.
Welche sind die besten Proteine?
Tierische Proteine gelten in der Regel als hochwertiger als pflanzliche. So weist der Ernährungswissenschaftler Paolo Colombani darauf hin, dass man mehr pflanzliche Proteine essen muss, um dieselbe biologische Wirkung zu erzielen. Bei Erbsenprotein etwa braucht es im Vergleich zu Molkenprotein die eineinhalbfache Menge, bei anderen Pflanzenproteinen im Extremfall das Vierfache.
«Die reine Grammzahl von Proteinen in den Nährwerttabellen sagt eigentlich gar nicht so viel aus», meint auch Savo Hertig. Eine Kombination aus beiden Quellen – tierischen und pflanzlichen – sei ideal. Dies empfehle er auch seinen Schwingern. Denn: «Unmengen an Fleisch sind ja auch nicht gesund.»
Wie schlimm ist denn zu viel tierisches Protein?
Das ist ein umstrittenes Thema, auch unter Fachleuten. Mehrere Studien brachten eine eiweissreiche Ernährung aus Fleisch und Milchprodukten mit einem erhöhten Sterberisiko sowie einem erhöhten Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs in Verbindung.
Nun aber zeigt eine soeben erschienene Analyse mit Daten von fast 16'000 Erwachsenen: Das stimmt offenbar gar nicht, tierisches Eiweiss bietet womöglich sogar einen leichten Schutz vor Krebs. Allerdings: Finanziert wurde die Studie vom kanadischen Verband der Rinderzüchter, sie ist daher mit Vorsicht zu bewerten.
Aus Savo Hertigs Sicht ist es wichtig, dass jede Person die für sich beste Mischung findet. Da gehe es nicht nur um die Haltung gegenüber tierischen Produkten: «Es gibt auch Leute, die zum Beispiel Blähungen von Molkenprotein bekommen.»
Helfen Proteine eigentlich beim Abnehmen?
Gemäss der sogenannten Protein-Leverage-Hypothese, auch bekannt als Protein-Hunger, ist unser Körper darauf programmiert, eine bestimmte Eiweissmenge aufzunehmen. Erst wenn diese erreicht ist, fühlt man sich satt. Das Problem: Ein Teller Pasta mit Tomatensosse, Pommes mit Schnitzel oder ein Fertiggericht liefern reichlich Kalorien, aber im Verhältnis zu Kohlenhydraten und Fett wenig Eiweiss. Deshalb isst man deutlich mehr, als man vom Energiebedarf her eigentlich bräuchte. Die Hypothese wurde vielfach untersucht und bei Tieren wie beim Menschen bestätigt.
Sind zu viele Proteine ungesund?
Für gesunde Menschen machen selbst grössere Mengen in der Regel nicht krank. Beim Abbau von überflüssigem Eiweiss entsteht allerdings Harnstoff, der über die Nieren ausgeschieden werden muss. Deshalb ist es wichtig, ausreichend zu trinken. Und wer sowieso schon Probleme mit den Nieren hat, sollte auf eine stark eiweisshaltige Ernährung verzichten. Zudem könne ein zu hoher Proteinkonsum auf Dauer die Leber belasten, ergänzt Savo Hertig.
Sein Credo lautet: «Proteine nicht einfach supplementieren, weil es alle tun – sondern nur dann, wenn es wirklich nötig ist und die normale Ernährung nicht ausreicht.» (aargauerzeitung.ch)
