Sport interessiert, bewegt, begeistert alle Gesellschaftsschichten, befeuert den Patriotismus, mobilisiert die Massen. Es wäre also höchst naiv, anzunehmen, Sport sei unpolitisch. Sport war, ist und wird nie unpolitisch sein.
Trotzdem schreiben sich die Sportverbände politische Neutralität in ihre Statuten und Reglemente, und den Sportlerinnen und Sportlern werden in zahlreichen Vorschriften und oft auch in den Anstellungs-Verträgen (wenn sie Profi sind) politische Statements untersagt. Wohlweislich: Wer nicht politisiert, bringt auch keine möglichen Werbepartner und Saisonkartenbesitzende gegen sich auf.
Das Problem ist die Heuchelei: Oben wird politisiert und unten wird das Politisieren verboten. Die Regierenden der Sportverbände machen seit Anbeginn vor jedem Potentaten den Bückling, lassen sich als Propagandisten für jedes Regime einspannen, wenn die Aussicht auf Geld oder persönliche Machtsicherung besteht. Deshalb konnte sich der Faschismus bei der Fussball-WM 1934 und bei den Olympischen Spielen 1936 inszenieren und deshalb ist es logisch, dass die WM in typische Fussball-Nationen wie Katar und Saudi-Arabien und die Olympischen Winterspiele an traditionsreiche Winterkurorte wie Peking vergeben werden.
Von der unauflösbaren Verflechtung des Sportes mit der Politik ist auch die neutrale Schweiz nicht gefeit, die in dieser Beziehung doch eigentlich eine höhere Sensibilität haben müsste: Helvetische Sportverbände haben etwa die gegen Russland gerichteten olympischen Boykotte von 1956 und 1980 mitgetragen.
Die politische Verlogenheit zeigt sich in diesen Tagen im internationalen Eishockey: Russland wird von der WM und voraussichtlich zum ersten Mal auch von den Olympischen Winterspielen verbannt. Aber die ganze Hockeywelt huldigt dem russischen NHL-Superstar Alex Owetschkin, der soeben den wichtigsten, ewigen Tore-Rekord von Wayne Gretzky geknackt hat und als Freund von Wladimir Putin gilt.
Zahlreich sind die individuellen politischen Statements. Der Black-Power-Protest bei den Olympischen Spielen 1968 erregte weltweites Aufsehen. Die afroamerikanischen Sprinter Tommie Smith und John Carlos ballten während der Siegerehrung zum 200-Meter-Lauf ihre erhobene Faust zum sogenannten Black-Power-Gruss. Noch in bester Erinnerung ist das Protest-Theater bei der Fussball-WM in Katar: Eigentlich wollte Deutschlands Captain Manuel Neuer eine bunte Kapitänsbinde mit der Aufschrift «One Love» tragen. Auf Druck der FIFA verzichtete er darauf.
Auch die Schweizer haben schon mal auf der grossen Fussballbühne protestiert: Jacques Chirac schockte 1995 die Welt. Als eine seiner ersten Amtshandlungen ordnet der französische Präsident Atomtests im Südpazifik an. Es kommt zu einem der raren politischen Protest-Momente unserer Fussballstars: Die Nationalmannschaft spielt ein EM-Qualifikationsspiel in Göteborg gegen Schweden. Alain Sutter & Co. entrollen vor dem Spiel ein Plakat mit der Aufschrift: «Stop it, Chirac!» Und nun also der Eklat mit dem Israel-Protest der helvetischen Fechter bei der Junioren-EM in Estland.
Bei Lichte besehen haben die jungen Männer das Recht auf Meinungsfreiheit plus die Bühne genutzt, die ihnen der Sport bietet. Das ist gegen die Reglemente, die politische Statements untersagen. Aber wenn die oben in den Verbänden eben auch politisieren, indem sie ihre Seelen und die Seele des Sportes den Mächtigen aus Wirtschaft und Politik verkaufen und mit ihrer Präsenz fragwürdige Regime adeln – dann ist es heuchlerisch, ja verlogen, empört zu sein, wenn Athletinnen oder Athleten ausnahmsweise ihre politische Meinung auf der sportlichen Bühne kundtun. Müssen Athletinnen und Athleten die Meinungsfreiheit vor der Garderobe oder vor dem Stadion abgegeben wie die Strassenkleidung?
Bis heute gibt es eigentlich nur einen Fall von politischer Meinungsäusserung eines Sportlers, die Konsequenzen hatte: Im Januar 1962 wird Eishockey-Nationaltrainer Reto Delnon entlassen, weil er Kommunist ist. Am 29. Dezember 1961 präsentiert ihn der Verband stolz als neuen Nationaltrainer. Der Bündner soll das Nationalteam nach einer Reihe blamabler Auftritte wieder auf die Erfolgsspur bringen. Als Spieler hatte er eine glänzende Karriere hingelegt. Seine Fairness ist legendär. In 20 Jahren Aktivzeit hat er lediglich fünf Strafen kassiert. Als Spielertrainer des HC La Chaux-de-Fonds betreibt er im Stadion die Bar «Chez Reto».
Als einige Medien seine linksextreme politische Gesinnung thematisieren, wird er von der Verbandsführung am 15. Januar 1962 fristlos entlassen. Seine Amtszeit hat gerade mal 19 Tage gedauert. Zum Verhängnis werden ihm politische Äusserungen: Nach Gastspielen mit dem Klub in der DDR sagte er gegenüber der «Voix ouvrière», der Zeitung der Partei der Arbeit (PdA), die Ostdeutschen seien glücklicher als die Schweizer und DDR-Sozialgesetzgebung sei fortschrittlicher.
Die Entlassung Delnons wird von den Medien beklatscht. Für das Fachblatt «Sport», das ja eigentlich nicht politisch sein sollte, haben die Verbandsfunktionäre «den einzig richtigen und einzig tragbaren Beschluss» gefällt. Zwar sei an Delnons fachlichen Qualitäten nicht zu zweifeln. Doch ein «Diener Moskaus» dürfe auf keinen Fall Vorbild für die Jugend sein und unser Hockey repräsentieren. Und die Nationalmannschaft? Zwei Monate nach der Affäre landet sie an der WM im amerikanischen Colorado Springs mit einem Torverhältnis von 21:60 nur auf dem zweitletzten Platz. Der neue Trainer, Ernst Wenger, arbeitet hauptberuflich im Erkennungsdienst der Berner Polizei. Seine politische Gesinnung steht nicht zur Debatte.
So konservativ war die Schweiz, unser Sport und waren unsere Medien in den Zeiten des «Kalten Krieges». Heute würde Reto Delnon wohl nicht mehr kritisiert und als «Paul Breitner des Hockeys» gefeiert. Der deutsche Fussballstar war ja einst für seine provokativ zur Schau gestellt linke Gesinnung nachgerade legendär.
Die Wirkung der politischen Proteste oder Meinungsäusserungen von Sportlerinnen und Sportlern hält sich sowieso im hochkommerzialisierten Sport in einem überschaubaren Rahmen. Nach kurzer Aufregung geht es bald zur Tagesordnung und zum Geschäft über. Es bleibt in der Regel bei einer heuchlerischen Rüge durch die Verbandsadministration. Konsequenzen hat eigentlich nur noch zu befürchten, wer nicht das Potenzial für sportliche Ruhmestaten hat und nichts zu guten TV-Quoten und Werbeeinnahmen beitragen kann. Money talks, politics walks.
Danke, Klaus! Viel zu gerne verleugnen Sportjournalisten diesen Fakt und hauen gerne auf die unten ein, während dem sie denen oben hofieren!