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Michelle Gisin schämte sich für ihre Krise im Ski-Winter 2024/25

epa11931901 Michelle Gisin of Switzerland in action during the Women's Downhill at the FIS Alpine Skiing World Cup in Kvitfjell, Norway, 01 March 2025. EPA/Stian Lysberg Solum NORWAY OUT
Michelle Gisin freut sich auf den 1. August und blickt auf einen enorm schwierigen Winter zurück.Bild: keystone

Michelle Gisin über ihre Krise: «Ich schämte mich dafür und war völlig im Elend»

Die Engelberger Weltcupfahrerin erklärt, wieso der Nationalfeiertag für sie eine so grosse Bedeutung hat. Und die 31-Jährige nimmt uns mit in ihre tränenreiche Gefühlswelt des vergangenen Winters.
01.08.2025, 15:2301.08.2025, 15:23
Rainer Sommerhalder / ch media
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Der Magen knurrt. Michelle Gisin kommt eine knappe Stunde später als geplant vom ersten Gletschertraining der Saisonvorbereitung in Zermatt zurück ins Teamhotel. Dort hat die eigens für die Skifahrerinnen engagierte Köchin aus dem Hoch-Ybrig längst gekocht.

Gisin nimmt es mit Humor. Nach dem Jahr Zermatter Zwangspause habe sie schlicht vergessen, wie lange es vom Berg runter ins Tal dauert. Obwohl sie nur mit drei Fragen des Journalisten gerechnet hat, nimmt sich die 31-jährige Innerschweizerin ausführlich Zeit für das Gespräch. Und wird darin tiefgründig.

Was machen Sie am 1. August?
Michelle Gisin: Ich verbringe den 1. August in Engelberg. Das ist alternativlos, denn dieser Tag ist für mich sehr wichtig. Ich denke, es ist beinahe der wichtigste Feiertag für mich. Ich liebe diesen Tag. Ich mag zwar auch die besinnliche Adventszeit sehr, aber weil wir dann mitten in der Weltcupsaison stehen und der 25. Dezember oft bereits wieder ein Reisetag ist, kann ich Weihnachten nicht sehr ausgiebig geniessen.

«Es tönt zwar kitschig und etwas romantisiert, aber wir leben hier wirklich in einem heilen Land, quasi im Märchenland.»

Das ist am Nationalfeiertag anders?
Ja, der hat in unserer Familie grosse Tradition. In Engelberg findet ein riesiges Dorffest statt. Bereits als Kind habe ich am Stand des Skiclubs Poulets verkauft. Ich treffe auch viele Schulkolleginnen und Kollegen. Am Morgen marschieren wir mit der Familie hinauf zum Trübsee und gehen anschliessend alle gemeinsam zum Brunchen. Der 1. August ist für uns ein sehr bewusster Familientag. Mein Partner Luca wird ebenfalls dabei sein. Wir schauen bei dieser Gelegenheit auch nach dem Haus, in Engelberg wird derzeit unser neues Zuhause gebaut. Auch darauf freuen wir uns.

Am 1. August feiert man die Schweiz. Ihr Partner ist Italiener. Sie bringen entsprechend auch einen Aussenblick auf unser Land mit. Was vermissen Sie, wenn Sie im Ausland sind?
Es tönt zwar kitschig und etwas romantisiert, aber wir leben hier wirklich in einem heilen Land, quasi im Märchenland. Ich persönlich vermisse das Trinkwasser. In Engelberg kann ich wie selbstverständlich den Hahn öffnen und trinke das bestmögliche Quellwasser. Diesen Luxus kennt man an ganz vielen Orten nicht. Es ist eine sehr banale Sache, aber nichtsdestotrotz enorm wichtig. Auch unser Klima mit den vier Jahreszeiten schätze ich sehr. Ich könnte nie an einem Ort leben, wo beispielsweise immer Sommer herrscht.

Und die Art der Schweizerinnen und Schweizer?
Ich schätze die zurückhaltende Mentalität. Und trotzdem kann man im Stillen auch sehr euphorisch werden – das hat die Fussball-EM jüngst wieder gezeigt. Der Italiener geht solche Dinge viel direkter an. Es hat beides sein Positives.

Auch die Italiener kennen einen Nationalfeiertag. Wenn ich an Sofia Goggias Inbrunst denke, wenn sie bei der Siegerehrung die Nationalhymne singt: Wie erleben Sie den Patriotismus unserer Nachbarn im Vergleich?
Es fühlt sich ein wenig anders an. Aber auch in der Schweiz kennt man diesen Stolz auf die eigene Nation. Was ich an der Schweiz enorm schätze, ist unsere einmalige direkte Demokratie. Selbst Luca muss ich immer wieder erklären, dass beispielsweise jedes Jahr ein anderer Bundesrat das Präsidium übernimmt. Unsere Demokratie ist ein riesengrosser Luxus, der uns leider viel zu wenig bewusst ist.

«Ich war überrascht, wie viele Menschen offensichtlich beleidigt sind, wenn ich nicht gut Ski fahre.»

Nie werden so viele Schweizer Fahnen geschwenkt wie am 1. August und bei Sportevents. Die Gisins verkörpern die perfekte Symbiose, auf was der Schweizer stolz ist: Erfolgreich im Sport und ein gelebter Zusammenhalt der Familie. Das Telefonat Ihrer Schwester Dominique mit dem Grosi taugte sogar als TV-Spot. Ist das schlicht toll oder fühlen Sie sich dadurch auch verpflichtet oder belastet?
Es ist eine sehr spannende Rolle. Ich bin nach wie vor genau der gleiche Mensch, obwohl ich durch meine Geschwister früh in der Öffentlichkeit stand und meine Vorbilder in der eigenen Familie hatte. Ich habe in meiner besten Saison mit dem Podestplatz im Gesamtweltcup jedoch auch gespürt, wie gross die Erwartungshaltung werden kann. Ich fuhr in besagtem Winter 25-mal in die Top 10 und kam gefühlt jeden dritten Tag als Interview-Gesicht im TV. Ich wurde als Konsequenz auch privat viel öfters erkannt. Das war ein seltsamer Schritt, denn ich zuerst begreifen musste. Es macht mich zwar durchaus auch stolz, wenn mich viele Leute beim Einkaufen oder auf der Strasse ansprechen. Man hat sehr schöne Begegnungen. Aber bisweilen war es für mich schwierig, das zu verstehen. Schliesslich fehlt mir die Aussensicht auf mich selbst. Eine Zeit lang fühlte ich mich deswegen ein wenig beobachtet.

Aber es bleibt sicher angenehmer, wenn Sie eine Gratulation entgegennehmen, als wenn Sie in sozialen Medien für Ihre Leistungen derart kritisiert werden, wie im vergangenen Winter erlebt?
Ich war überrascht, wie viele Menschen offensichtlich beleidigt sind, wenn ich nicht gut Ski fahre. Ich wusste nicht, dass ein schlechtes Resultat von mir für Herrn XY so schlimm sein kann. Ich verstehe zwar die Enttäuschung, aber wieso muss man deswegen Hasskommentare schreiben?

Wie schwierig war es für Sie, gegenüber der Öffentlichkeit immer wieder zu erklären, wieso es nicht läuft?
Irgendwann gehen dir die Erklärungen aus. Ich wusste ja selbst nicht wirklich, wieso es nicht funktionierte. Es benötigt oft seine Zeit, um den Gründen auf die Spur zu kommen, übrigens für den Misserfolg wie auch im Erfolgsfall. Ich konnte meine wahren Gefühle auch ein Stück weit verstecken – vor der Öffentlichkeit, aber phasenweise leider auch vor mir selbst.

«Ich will mich nicht als Opfer meiner negativen Gedanken fühlen, weil es mir sportlich gerade nicht läuft. Zuerst einmal führe ich doch ein privilegiertes Leben.»

Jetzt wirken Sie wieder motiviert. Wie überwindet man eine Phase, in der es gar nicht läuft?
Es ging mir gerade in der zweiten Hälfte der Saison teilweise wirklich schlecht. Da wieder rauszufinden, war tatsächlich nicht einfach und brauchte seine Zeit. Ich benötigte Abstand und musste mich zwingen, bewusst vier Monate lang nicht auf die Ski zu stehen. Eine längere Pause hatte ich in meiner Karriere einzig nach meinem Kreuzbandriss und während des Pfeifferschen Drüsenfiebers.

epa11983808 Michelle Gisin of Switzerland reacts in the finish area during the women's Super-G race at the FIS Alpine Ski World Cup Finals, in Sun Valley, Idaho, USA, 23 March 2025. EPA/JEAN-CHRI ...
Michelle Gisin fühlte sich im vergangenen Winter unter permanentem Stress.Bild: keystone

Was erhofften Sie sich von dieser Pause?
Sie war erzwungen. Ich wollte zwar im Frühling auf die Ski, spürte aber, dass ich mich nach wie vor viel zu sehr in meinen Mustern bewegte und schnell wieder in die negativen Momente fiel. Ich habe in dieser Zeit viel meditiert und versucht, die Erlebnisse der letzten Saison einzuordnen. Man muss sich in solchen Situationen auch einmal bewusst sein, dass es mir ja grundsätzlich sehr gut geht. Ich bin gesund, mein Umfeld ist gesund.

Braucht es diese Denkweise, um die Relation von sportlichem Erfolg oder Misserfolg einzuordnen?
Man kann Dankbarkeit bewusst trainieren, indem man sich täglich Dinge vor Augen führt, für die man dankbar ist. Ich will mich nicht als Opfer meiner negativen Gedanken fühlen, weil es mir sportlich gerade nicht läuft. Zuerst einmal führe ich doch ein privilegiertes Leben. Das ist ein riesiges Glück. Andererseits: Wenn es dir schlecht geht, dann geht es dir schlecht! Das muss man auch akzeptieren können. Erst nach diesem Schritt kann man es auch relativieren.

«Ich brachte keine vernünftige Kurve hin. Es war unmöglich. Ich schämte mich dafür und war völlig im Elend.»

Wie haben Sie Ihre Saison relativiert?
Als erstes habe ich meine Erwartungen runtergeschraubt. Es war für mich in der Vergangenheit mit den vier Disziplinen eine spezielle Herausforderung. Jeder Trainingstag in einer der Disziplinen war quasi viermal so wichtig, weil ich eben weniger Skitage zur Verfügung habe als beispielsweise eine reine Slalomspezialistin. Ich wusste für mich, dass jeder Trainingstag passen muss. Dieser Druck hat sich über die Jahre immer mehr aufgebaut und irgendwann konnte ich mich davon nicht mehr lösen. Ich erachtete jedes Training als ausserordentlich wichtig und ich musste in jedem Training 100 Prozent geben. Im vergangenen Winter kippte dieser Druck und die Erwartungen definitiv ins Negative und führten zu einer kompletten Verkrampfung. Ich habe so viele Dinge versucht, aber es ging schlicht nicht. Auch weil ich oft das Gefühl hatte, fünf Sachen gleichzeitig verbessern zu müssen. Schnell kippte es dann wieder ins Negative, ich stand unter enormem Stress. Es fühlte sich an, als würde der ganze Druck aus all den Jahren auf einmal über mich hereinbrechen.

Es ging Ihnen phasenweise wirklich schlecht. Nach den Rennen in Garmisch von Ende Januar hätte mich sogar ein Rücktritt nicht überrascht. Wie nahe war dieser Schritt?
Ich spürte, dass es eine sehr, sehr schwierige Situation für mich war. Das ganze Kartenhaus fiel in sich zusammen. Es fiel schwer, die Motivation und Begeisterung zu finden, die mich über Jahre getragen hat, da mein Feuer viel weniger loderte als üblich. Ich habe gefühlt, aber mein Feuer auch selbst mit aller Gewalt kleingemacht. (Lacht herzhaft.) Aber letztlich verlor ich den Glauben und die Hoffnung nie, mir die Chance auf die Olympiasaison mit den Winterspielen vor der Haustüre zu erhalten. Der Rücktritt wäre ein Aufgeben gewesen. Und es wäre zweifellos der einfachere Weg gewesen, mir zu sagen, ich tue mir das nicht mehr an. Es war im letzten Winter zwischenzeitlich nichts anderes. Ich habe auch zu spät realisiert, dass es mir wirklich nicht gut geht. Eigentlich war dies schon im November klar. Ich absolvierte nach Sölden nochmals Speedtrainings und alles passte perfekt. Dann kam ich drei Wochen später nach den Technikrennen in Levi, Gurgl und Killington nach Cooper Mountain und konnte nicht mehr Skifahren. Ich brachte keine vernünftige Kurve hin. Es war unmöglich. Ich schämte mich dafür und war völlig im Elend.

Danach ging es allerdings eine gewisse Zeit lang recht gut!
Ja, in Beaver Creek und auch in St. Moritz funktionierte es erstaunlich gut. Es war die einzige Phase der Saison, in welcher ich ohne Erwartungen antrat, denn ich wusste damals ja, dass eigentlich gar nichts passt.

In Zermatt standen Sie nun erstmals wieder auf Ski. Wie war es?
Es war für mich ein enorm wichtiger Tag. Ich war im Vorfeld sehr unsicher. Wie fühlt sich das Skifahren nach dieser Pause an? Wird es wieder ein derart schwieriger Tag, wie ich ihn im letzten Winter so oft erlebte? Ich ging den Tag bewusst mit sehr tiefen Erwartungen, aber gleichzeitig mit einer positiven Einstellung an. Und siehe da: auf einmal konnte ich wieder locker und mit Ruhe Ski fahren. Und habe dabei endlich wieder einmal gespürt, dass es eigentlich so einfach wäre.

Michelle Gisin startet mit neuem Mindset ins erste Schneetraining nach über vier Monaten Skipause.
Michelle Gisin geniesst ihren ersten Skitag in Zermatt nach über vier Monaten selbstauferlegten Zwangspause auf Schnee.Bild: Rainer Sommerhalder

Wie wollen Sie den Ehrgeiz der Spitzensportlerin mit den bewusst tiefen Erwartungen unter einen Hut bringen?
Es hat nichts mit Resultaten zu tun. Es geht darum, Tag für Tag zu nehmen, eines nach dem anderen zu stabilisieren und nicht fünf Sachen aufs Mal. Und mir auch die notwendige Zeit dafür zu geben. So kreiere ich für mich wieder Erfolgserlebnisse. Ich weiss zwar anhand von vielen Abschnittszeiten, dass ich das schnelle Skifahren nicht verloren habe. Die Frage ist nur, wo es sich versteckt. (Lacht.) Wir müssen jetzt vieles wieder aufbauen, zusammensetzen und Automatismen erarbeiten. Und schauen, ob ich bis zum Winter den Anschluss an die Weltspitze nochmals schaffe. (bzbasel.ch)

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5 Kommentare
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Etzsegiglichöpis
01.08.2025 17:09registriert September 2020
Danke für die offenen Worte, interessanter Einblick. Wünsch ihr viel Erfolg, aber vor allem Freude.
Gleichzeitig hinterlässt es irgendwie auch immer ein komisches Gefühl wenn man über Einzelsport nachdenkt, wenn sie nicht erfolgreich fährt, kann eine andere dafür Mal jubeln. Daher finde ich es schön wenn sie es wieder genießen kann ihr Privileg der Profisportlerin.
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