2024 markiert für Novak Djokovic wohl die letzte Chance, die einzige verbliebene Lücke in seinem Palmarès zu schliessen: Olympia-Gold im Einzel. Zugleich eröffnet sich die Gelegenheit, etwas zu vollbringen, das 1988 Steffi Graf, aber noch nie einem Mann gelungen ist: der Triumph bei allen vier Grand-Slam-Turnieren innerhalb eines Kalenderjahrs und Gold im Einzel bei den Olympischen Spielen.
Sicher ist: Bleibt der Serbe gesund, ist er bei jedem Major-Turnier erster Anwärter auf den Titel. Im Vorjahr gewann er bereits zum vierten Mal nach 2011, 2015 und 2021 drei von vier Grand-Slam-Turnieren. Einzig in Wimbledon verliess er den Platz als Verlierer, nachdem er Carlos Alcaraz in fünf Sätzen unterlegen war.
Gleich acht Mal wechselten sich der 20-jährige Carlos Alcaraz und der bald 37-jährige Novak Djokovic im Vorjahr an der Spitze der Weltrangliste ab. Im Halbfinal von Paris zahlte der Spanier Lehrgeld, wenige Wochen später fügte er Djokovic in Wimbledon die erste Niederlage seit 2017 zu.
Alcaraz dürfte denn auch der grösste Herausforderer des Serben sein – aber längst nicht mehr der einzige. Der 21-jährige Italiener Jannik Sinner scheint reif für einen ersten Grand-Slam-Titel. Und der 27-jährige Russe Daniil Medwedew wird alles daran setzen, dem US-Open-Sieg von 2021 (Finalerfolg gegen Djokovic) einen weiteren Triumph folgen zu lassen.
Gespannt sein darf man auf die Entwicklung des Dänen Holger Rune, der mit Djokovics Ex-Trainer Boris Becker und Federers Ex-Trainer Severin Lüthi auf eine geballte Ladung an Expertise zurückgreifen kann. Mit Stefanos Tsitsipas, Alexander Zverev und Casper Ruud lauern weitere vormalige Grand-Slam-Finalisten auf ihre grosse Chance.
Im September kündigte der mittlerweile bald 38-jährige Spanier an, dass 2024 sein letztes Jahr auf der Tennistour sein könnte. Zuvor hatte er sich einem Eingriff an der Hüfte unterzogen. In der ersten Januarwoche kehrte Rafael Nadal in Brisbane nach fast einem Jahr Unterbruch zurück.
Und tat, was er in den letzten zwei Jahrzehnten schon so oft getan hatte: Er liess es so aussehen, als wäre er gar nie weg gewesen. Nach zwei Siegen bedeutete der Viertelfinal vorerst Endstation – auch wegen der Verletzung. Nadals Trainer Carlos Moya erwartet, dass sein Schützling erst im Frühling zur Bestform auflaufen wird.
Was das heisst, dürfte allen klar sein: Der Sandkönig strebt bei den French Open in Paris seinen 15. Titel an. Wer nun in Versuchung gerät, Nadal nur dann zu Titelaspiranten zu zählen, wenn er gesund bleibt, der sei an die Umstände erinnert, unter denen er vor knapp zwei Jahren seinen 23. und bislang letzten Grand-Slam-Titel gewann: mit einem betäubten Fuss. Für Rafael Nadal gilt: Nichts ist unmöglich, auch nicht ein weiteres Comeback.
Dass er im letzten Jahr, als bald 39-Jähriger, nach zahlreichen Operationen an den Knien und am Fuss und nach fast einem Jahr Pause, überhaupt noch einmal zurückkehrte, bezeichnet sein Trainer Magnus Norman nicht zu Unrecht als kleines Wunder. Nun gehört Stan Wawrinka wieder den Top 50 der Weltrangliste an und ist der am besten klassierte Schweizer. Dass er nach den Australian Open 2014, den French Open 2015 und den US Open 2016 ein viertes Grand-Slam-Turnier gewinnt, ist unrealistisch.
Ein anderes Ziel scheint in greifbarer Nähe: Wawrinka strebt seinen 17. ATP-Turniersieg an, den ersten seit Genf 2017. Im Vorjahr fehlte ihm im Final von Umag, Kroatien, nur ein Satz. Allerdings steigt der Romand mit der Hypothek eines verunglückten Jahresendes in die neue Saison: Anfang November verletzte er sich in Metz an der Wade und musste mehrere Wochen pausieren. Für die Australian Open gab Wawrinka grünes Licht.
Erstmals beendete Dominic Stricker ein Jahr unter den 100 Weltbesten, stand bei den letzten drei Grand-Slam-Turnieren immer im Hauptfeld und schaffte mit dem Achtelfinal-Vorstoss bei den US Open seinen grossen Durchbruch. Dazu hat der Berner schon auf drei verschiedenen Unterlagen mindestens einen Viertelfinal erreicht: 2021 beim ATP-Debüt in Genf auf Sand, im gleichen Sommer in Stuttgart auf Rasen - und im letzten Herbst in Basel auf einem Hartbelag und erstmals bei einem ATP-500-Turnier.
Fast so bemerkenswert wie die sportliche Entwicklung ist, mit welcher Gelassenheit und Selbstverständlichkeit Stricker sich auf dieser Bühne bewegt. Unvergessen ist, wie er bei seinem Sieg gegen Stefanos Tsitsipas vor dem entscheidenden Aufschlagspiel zu Whitney Houstons Welthit «I Wanna Dance With Somebody» mitsang. Das sind gute Voraussetzungen, sich in den kommenden Jahren in der erweiterten Weltspitze zu etablieren.
Der Linkshänder verfügt über ein komplettes Schlagarsenal. Am meisten Entwicklungspotenzial hat Stricker im physischen Bereich. Vor allem dann, wenn man sieht, in welchen Sphären sich diesbezüglich die beiden um noch ein Jahr jüngeren Carlos Alcaraz und Holger Rune bewegen. Nicht auszudenken, welch interessante Erfolgsmischung sich ergibt, wenn aus dem begabten Spielertypen Stricker auch noch ein Modellathlet wird. Den Saisonstart in Australien verpasst er allerdings wegen einer Rückenverletzung.
Mit Iga Swiatek in Paris und New York gewann in den letzten sieben Jahren nur ein einziges Mal eine Frau innerhalb einer Saison mehr als ein Grand-Slam-Turnier. Die polnische Weltnummer 1 bleibt der Gradmesser, doch inzwischen hat sich Arina Sabalenka zu einer Gegnerin auf Augenhöhe entwickelt. Im letzten Herbst führte die Belarussin, die Anfang 2023 die Australian Open gewonnen hatte, für kurze Zeit sogar die Weltrangliste an.
In Lauerstellung befinden sich die 19-jährige Amerikanerin Coco Gauff, Siegerin der US Open, und Jelena Rybakina, die Wimbledon-Siegerin von 2022 aus Kasachstan. Nicht überraschen würde es, wenn die Tunesierin Ons Jabeur nach drei Finalvorstössen ein Grand-Slam-Turnier gewinnen würde. Wie das Beispiel Marketa Vondrousova zeigt, sind bei den Frauen aber weiterhin grössere Überraschungen möglich. Die Tschechin, damals im 42. Rang der Weltrangliste geführt, gewann in Wimbledon als erste Ungesetzte seit Billie Jean King vor 60 Jahren ein Grand-Slam-Turnier.
Gespannt sein darf man auch auf drei Rückkehrerinnen: Mit der Dänin Caroline Wozniacki, der Japanerin Naomi Osaka und der Deutschen Angelique Kerber nehmen drei Grand-Slam-Siegerinnen und frühere Nummern 1 der Welt nach Mutterschaftspausen einen neuen Anlauf.
Das genaue Datum hält sie streng geheim, aber im Frühling, kurz nach ihrem 27. Geburtstag, wird die Olympiasiegerin erstmals Mutter. Damit ist auch klar, dass Belinda Bencic nicht an den Olympischen Spielen in Paris teilnehmen wird. Theoretisch wäre es denkbar, dass sie bereits im Herbst auf die Tennistour zurückkehrt. Viel wahrscheinlicher ist, dass Bencic erst 2025 und nach sorgfältiger Vorbereitung wieder Turniere bestreiten wird. Erleichtert wird der Wiedereinstieg durch einen Mutterschutz.
Viktorija Golubic hat sich mit einem starken Herbst in die Top 100 der Welt zurückgespielt und hat in der ersten Jahreshälfte nur wenige Punkte zu verteidigen. Will sie sich für die Olympischen Spiele in Paris qualifizieren, muss sich die Zürcherin allerdings um weitere 30 Positionen verbessern.
Marc-Andrea Hüsler nahm die Saison als Nummer 47 der Welt in Angriff und beendete sie nach einer beispiellosen Niederlagenserie nur knapp innerhalb der Top 200. Ein ähnliches Schicksal ereilte Jil Teichmann, die im Sommer 2022 im 21. Rang der Weltrangliste geführt wurde, inzwischen nur noch auf Position 131 liegt. Für beide geht es in den ersten Monaten darum, sich möglichst schnell wieder in den Top 100 zu etablieren.
Das gleiche Ziel verfolgen die 18-jährige Céline Naef (WTA 142), die sich in Wimbledon durch die Qualifikation spielte, und die 23-jährige Bündnerin Simona Waltert (WTA 171). (aargauerzeitung.ch)