Ihre Geschichte fasziniert, löste in der Schweiz zuweilen aber auch Befremden aus. Denn die Karriere von Belinda Bencic war von langer Hand geplant. Am 10. Mai 2004, als sie sieben Jahre alt ist, gründete Marcel Niederer, ein Freund von Vater Ivan, die Kollektivgesellschaft Bencic & Partner. Er finanzierte den Aufstieg an die Weltspitze.
Mit 16 war Bencic die beste Juniorin der Welt. Mit 17 stand sie bei den US Open in den Viertelfinals. Mit 18 war sie die Nummer 7 der Welt. Verletzungen, Formbaissen und die Abnabelung vom Elternhaus warfen sie danach immer wieder zurück. Inzwischen ist Bencic 24-jährig, gehört seit knapp zwei Jahren zu den Top 15 der Welt. Doch auf einen grossen Sieg wartet sie noch.
Es ist Dienstag, der 21. Juli, 10 Uhr morgens Tokioter Zeit. Belinda Bencic ist erst in der Nacht in Japan angekommen, schlief nur eine Stunde in einem dieser Kartonbetten im Olympic Village, alles ist aufregend, alles ist neu für sie bei ihren ersten Olympischen Spielen, auch wenn der Traum vom gemischten Doppel mit Roger Federer geplatzt ist. Sie hat schwierige Monate hinter sich, bei ihrem Lieblingsturnier in Wimbledon verlor sie in der ersten Runde.
Unsere Frage: «Belinda Bencic, Sie sind nun 24 Jahre alt, glauben Sie noch immer, dass Sie ein ganz grosses Turnier gewinnen können?» Ihre Antwort: «Ich weiss nicht, wann meine Zeit kommt, aber ich arbeite jeden Tag hart dafür, dass meine Träume in Erfüllung gehen. Ich bin überzeugt, dass ich irgendwann dafür belohnt werde.»
Acht Tage später steht Bencic bei den Olympischen Spielen in Tokio im Einzel und im Doppel mit Viktorija Golubic im Final und schreibt Schweizer Sportgeschichte. Das Protokoll eines denkwürdigen Tages.
33 Grad heiss ist es an diesem Nachmittag und die Luft im Ariake Tennis Park im Hafenviertel von Tokio flimmert, als Belinda Bencic den Platz betritt, wo sie erstmals auf die schlagstarke Kasachin Elena Rybakina (22, WTA 22) trifft. Sie geht mit Break in Führung, liegt aber bald mit 2:5 im Hintertreffen. Sie hadert, sie wirft ihren Schläger. Und es hilft. Bencic wehrt bei eigenem Aufschlag sechs Satzbälle ab – drei beim Stand von 4:5, vier beim Stand von 5:6, den letzten mit einem Ass. Sie gewinnt das Tiebreak mit 7:1, gespielt sind zu diesem Zeitpunkt schon 73 Minuten.
Nach eineinhalb Stunden wirft die Sonne erste Schatten, als Bencic im zweiten Satz mit Break in Führung geht und Kurs auf den Final nimmt. Doch sie zieht wieder eine Baisse ein. Sie verliert den Satz und liegt auch im dritten Durchgang zweimal mit Break im Hintertreffen. Der Centre Court im Ariake Tennis Park, der 10'000 Plätze fasst, die leer bleiben, trägt den Namen «Kolosseum», doch für Bencic droht es das Theater der Albträume zu werden. «Ich dachte, ich hätte meine Chance verpasst», wird sie später sagen.
Doch es kommt anders. Bencic gewinnt die letzten vier Games und zieht nach 2:44 Stunden und einem 7:6 (7:1), 4:6, 6:3 in den Einzel-Final ein, wo sie am Samstag auf die Tschechin Marketa Vondrousova (22, WTA 42) trifft und sich als erst sechste Schweizerin bei Sommerspielen zur Olympiasiegerin küren könnte.
Es fliessen Tränen, auch in der Box, wo Doppelpartnerin Viktorija Golubic, Bencics Freund und Fitnesstrainer Martin Hromkovic und Delegationsleiter Dominik Utzinger mitfiebern. Doch noch ist ihr Tag nicht zu Ende, noch steht das Doppel an.
Wenige Minuten später versucht Bencic, ihr Glück in Worte zu fassen. Sie sagt: «Ich bin einfach überwältigt, ich weiss nicht, ob ich am Schluss noch geatmet habe. In einem solchen Moment kann man nicht mehr klar denken. Es ist ein Traum, der in Erfüllung geht.» Danach zieht sich die 24-Jährige in eine schmucklose Baubaracke zurück, die im Schatten des Centre Courts steht, um auf einer Rolle die Muskulatur bei der Regeneration zu unterstützen.
Freund Martin bringt elektrolythaltige Getränke, umarmt sie noch einmal. Bencic sagt: «Sein Anteil am Erfolg ist riesig. Er ist auch Sportler, er versteht mich, hat die gleiche Mentalität und kann sich in mich hineinversetzen. Dass wir privat liiert sind, heisst nicht, dass er mich im Training schont. Er zwingt mich aus der Komfortzone. Er ist ein Experte in seinem Beruf und weiss genau, was wann Sinn ergibt.»
Ungleich kleiner ist die Bühne, die der Court 3 der Tennisanlage in Tokio bietet, aber Schauplatz des nächsten Triumphs. Nach 0:4-Rückstand setzen sich Bencic und Viktorija Golubic mit 7:6, 6:3 gegen das brasilianische Duo Laura Pigossi/Luisa Stefani durch und stehen im Doppel-Final vom Sonntag, wo sie auf das topgesetzte, tschechische Doppel Barbora Krejcikova/Katerina Siniakova treffen. Schon 2016 in Rio de Janeiro gewann ein Schweizer Frauen-Doppel eine Medaille: Silber für Timea Bacsinszky und Martina Hingis.
4:19 Stunden stand Belinda Bencic auf dem Platz, bis das «Kolosseum» zum Theater der Träume wurde. Unmittelbar danach begann die Vorbereitung auf das Final-Wochenende – mit einem Sprung ins Eisbad. In ihre Kartonbetten im olympischen Dorf kam das Duo kurz vor halb zwei Uhr nachts. Am Freitag konnten Bencic und Golubic ausschlafen und versuchen, das Erlebte sacken zu lassen. Bencic sagt: «Es war purer Stress, man will einfach nicht den vierten Platz belegen. Ich kann nicht glauben, dass wir eine Medaille haben.» In ihrem Fall sind es sogar deren zwei.
Belinda Bencic hat damit bereits jetzt ein grosses Stück Schweizer Sportgeschichte geschrieben. Erst fünf Schweizerinnen haben bei olympischen Sommerspielen Gold gewonnen, nur fünf haben mehr als eine Medaille gewonnen, nur zwei standen an den gleichen Olympischen Spielen zweimal auf dem Podest. Aber noch nie gewann eine Frau zwei Goldmedaillen. Der Moment der Belohnung, von dem sie vor anderthalb Wochen gesprochen hatte – er wird in Tokio Tatsache.