Als am Sonntag in Wimbledon auf Court 3 die Korken knallten, sah sich Schiedsrichter John Bloom bemüssigt, zur Ordnung aufzurufen. «Ladies and Gentleman, wenn Sie eine Flasche Champagner öffnen, tun Sie das bitte nicht, wenn die Spieler servieren», mahnte er. Gespielt war erst ein Punkt zwischen den Russinnen Anastasia Potapova und Mirra Andrejewa.
"Ladies and gentlemen... if you are opening a bottle of champagne, don't do it as the players are about to serve" 🍾
— Wimbledon (@Wimbledon) July 9, 2023
The most #Wimbledon warning ever from umpire John Blom 🤣 pic.twitter.com/57GBixnM4U
Während Potapova ein Lächeln übers Gesicht huschte, verzog die erst 16-jährige Andrejewa keine Miene. Es war bezeichnend. Nach dem 6:2, 7:5-Erfolg und dem Einzug in den Achtelfinal sagte sie, dass sie auf dem Platz «immer nur von Punkt zu Punkt» denke und nicht wahrnehme, was um sie herum passiere. Wenn es um den Sieg gehe, sei sie eine Perfektionistin.
Daneben sei sie «eine ganz normale 16-Jährige». Dort könne sie «wie ein Kind» sein, was sie ja tatsächlich auch noch ist. Andrejewa geht noch zur Schule, der Unterricht läuft online. Sie sei gut, aber in Chemie, da sei sie schlecht, «ich verstehe gar nichts», sagte sie in Paris. Schon da erreichte sie bei ihrer Grand-Slam-Premiere als Qualifikantin die dritte Runde.
Dort beschrieb sich die 16-Jährige so: «Ich mache einfach das auf dem Platz, was sich für mich richtig anfühlt. Wenn ich mit meinen Trainern über den Plan vor einem Match rede, denke ich bis zum Match daran. Aber dann vergesse ich das Zeug - und ich spiele einfach, wie ich fühle.» Und das mit bemerkenswertem Erfolg. Bevor sie nach Wimbledon kam, um in der Qualifikation anzutreten, hatte sie noch nie auf Rasen Tennis gespielt.
Zwar verlor sie im Achtelfinal gegen die Amerikanerin Madison Keys (WTA 18) mit 6:3, 6:7, 2:6. Doch es ist nun wirklich kein Prophet, wer behauptet, Andrejewa gehöre die Zukunft. Nicht nur in Wimbledon, sondern überall.
Das ist auch deshalb erstaunlich, weil Andrejewa nach den French Open nur trainiert hatte. Geschuldet ist das dem Umstand, dass sie als 16-Jährige nur eine bestimmte Anzahl Turniere bestreiten darf. «Deshalb müssen wir den richtigen Moment und das richtige Turnier wählen», sagte sie. Bisher ist das vorzüglich gelungen. Wimbledon ist Andrejewas drittes Profiturnier. Aufgegangen war ihr Stern Anfang Mai in Madrid, wo sie sensationell den Achelfinal erreichte, wo sie gegen Arina Sabalenka (WTA 2 ) verlor.
In Madrid machte Andrejewa nicht nur mit ihrem Spiel, sondern auch mit ihrem erfrischenden Naturell auf sich aufmerksam. «Die Atmosphäre hier ist besonders! Man sieht die ganzen Stars ... Wenn Andy Murray vorbeiläuft – allein sein Gesicht. Er ist so wunderschön im echten Leben!», erzählte sie strahlend im Fernsehen. Der Schotte griff die Schwärmerei auf und schrieb dazu auf Twitter: «Man stelle sich vor, wie gut sie erst wird, wenn sie ihre Augen in Ordnung bringt.» Hinter den Satz setzte er drei Emojis: staunende Augen, ein Gelächter-Smiley, ein Gesicht mit Herzchen als Augen.
Imagine how good she’s going to be when she gets her eyes fixed 👀🤣😍 https://t.co/t9R4YnMWDk
— Andy Murray (@andy_murray) April 29, 2023
Darauf angesprochen, ob sie in Wimbledon mit Murray ins Gespräch gekommen sei, entgegnete Andrejewa: «Nein, ich bin zu schüchtern.»
So sehr sie vom dreifachen Grand-Slam-Sieger schwärmt, die Vorbilder Andrejewas sind andere. Es habe sie beeindruckt, wie Rafael Nadal 2022 nach einer Verletzung in Australien und Paris gewonnen habe. «Manchmal versuche ich, ihn zu kopieren.» Bis dahin habe sie noch zu Roger Federer aufgeblickt. «Ich bewundere ihn. Er war immer mein Lieblingsspieler.»
Dem inzwischen zurückgetretenen Federer mag Andrejewa etwas die Liebe entzogen haben, dafür hat sie ihr Herz an die Schweiz verloren. Es war Anfang April, als die Aufsteigerin der letzten Wochen dem Land ihre Aufwartung machte, in Chiasso und Bellinzona zwei Turniere spielte, die sie - natürlich - gewann. Darauf angesprochen, sagte sie: «Die Schweiz ist ein wunderschönes Land. Auch in den Bergen waren wir. Mir gefielen die beiden Orte. Und auch, dass ich zwei Turniere gewonnen habe.»
Da trifft es sich gut, dass die 16-Jährige Gipfelstürmerin aus Krasnojarsk in Sibirien schon in zwei Wochen wieder in die Schweiz reist. Ende Juli spielt Mirra Andrejewa beim Sandturnier in Lausanne (ab 24. Juli), wo auch Belinda Bencic gemeldet ist. Niemand wäre überrascht, wenn sie dort Grund hätte, die Korken knallen zu lassen. Und nicht nur das Publikum. (aargauerzeitung.ch)