Frances Tiafoe ist ein Glückskind. Sein Leben hätte wesentlich unerfreulicher verlaufen können, wären seine Eltern nicht Mitte der 1990er-Jahre aus dem von einem Bürgerkrieg gebeutelten Sierra Leone in Westafrika nach Amerika geflüchtet. Der Vater fand Arbeit auf der Baustelle des neuen Tenniscenters einer Universitäts-Vorbereitungsschule – und wurde nach der Fertigstellung als Abwart angestellt. Noch besser: Er durfte mit seinen Zwillingssöhnen Frances und Franklin ein unbenutztes Büro als Wohnung nutzen. Und das i-Tüpfelchen: Die Buben durften kostenlos mittrainieren.
Das Tennisfieber packte Frances Tiafoe sofort. «Ich spielte stundenlang», erinnert er sich. «Ich sog das Tennis auf, schaute zu. Das einzige, was ich als Jugendlicher im Fernsehen schaute, war der Tennis-Channel.» Er hatte Talent, und er hatte den Willen, es weit zu bringen. Tiafoe war amerikanischer Juniorenmeister, mit 21 Jahren erreichte er am Australian Open die Viertelfinals.
Es ging aber nicht stetig aufwärts. «Ich wurde etwas genügsam», gibt er zu. Sein Coach Wayne Ferreira formuliert es ein wenig drastischer. «Er mochte sehr viele Süssigkeiten, Schokolade und ‹Guetzli›», verrät der Südafrikaner, der selber als Profi erfolgreich war und einen seiner 15 ATP-Titel 1994 in Basel gewann. «Er hat sie zu den ungewöhnlichsten Zeiten gegessen, hat das Frühstück dafür oft ausgelassen.» Auch im Training sei er nicht immer seriös genug gewesen. «Ich brauchte einige Zeit, um mein Ding zusammenzukriegen», gibt der heute 24-jährige Tiafoe zu. Tempi passati.
Tiafoe bestätigte seinen grössten Erfolg gegen Rafael Nadal am Mittwoch im Viertelfinal gegen Andrej Rublew mit einem weiteren brillanten Auftritt. Nun steht er im Halbfinal, als erster Amerikaner beim Heimturnier seit Andy Roddick 2006 (Finalniederlage gegen Roger Federer). Dabei soll es seiner Meinung nicht bleiben.
Er spüre die Unterstützung der Fans. Und die aktuelle US-Generation mit Taylor Fritz, Tommy Paul oder Reilly Opelka sei sehr stark. «Jetzt bin es ich, nächstes Jahr wird es ein anderer Amerikaner sein.» Tiafoe spielt aber nicht nur für sein Land. «Ich weiss, dass ich mithelfe, dass viele dunkelhäutige Kinder Tennis spielen. Das freut mich enorm.» Der Basketball-Fan ist sich auch bewusst, dass die Chance auf den Durchbruch so gross ist wie selten. Auch die anderen vier Halbfinalisten haben noch nie ein Grand-Slam-Turnier gewonnen.
Tiafoes grosses Idol Juan Martin Del Potro («Er war der erste Tennisprofi, der mir einen Ball signiert hat») war sogar erst 20-jährig, als er 2009 mit einem Finalsieg gegen Federer sensationell das US Open gewann. Trotzdem ist der Weg noch steinig. Im Halbfinal wartet in der Nacht auf Samstag der spanische Teenager Carlos Alcaraz, der darum spielt, die jüngste Nummer 1 der Geschichte zu werden. Alcaraz entschied das Duell der Jungspunde gegen Jannik Sinner in fünf unglaublich hochstehenden Sätzen, für sich – nach fünfeinviertel Stunden um 2:50 Uhr in der Früh.
«Ich bin überzeugt, dass sie beide Grand-Slam-Turniere gewinnen werden», hatte Tiafoe vor deren Viertelfinal prophezeit. Wenn es nach ihm geht, aber noch nicht in diesem Jahr. Sein Wunsch, die beiden mögen doch möglichst lange spielen, damit der Sieger etwas müde sei, wurde jedenfalls erhört. Es dürfte die Chancen für den Aussenseiter etwas grösser machen. (mom/sda)