Als Belinda Bencic bereits eine Woche vor Turnierbeginn in Wimbledon ankam, waren die Erwartungen wohl so tief wie noch nie, seit sie 2014 erstmals im Südwesten Londons antrat. Seit Anfang April hatte sie nur eine Partie bestritten – bei der Erstrundenniederlage in Paris. Zuvor hatte sie wegen einer Stressreaktion im Oberschenkelknochen pausieren müssen, danach wegen einer Entzündung in der Schulter. Erstmals seit 2015 spielte Bencic vor Wimbledon kein Turnier auf ihrer Lieblingsunterlage Rasen.
Auch jetzt wirft die Schulter Fragen auf. Beim Sieg gegen Magda Linette war Bencic beim Aufschlag sichtlich eingeschränkt. In die Karten blicken lässt sie sich nicht und sagt: «Ich spürte es schon. Ich bin froh, dass alles hält, das ist das Wichtigste.» Am Samstag verzichtete sie auf ein Training.
First win in a long time ☺️ so happy to be back playing, especially here 🍓🌱 @Wimbledon pic.twitter.com/y2kBddq16s
— Belinda Bencic (@BelindaBencic) July 3, 2023
Anfang April hatten sich Belinda Bencic und ihr Trainer Dimitri Tursunow nach acht Monaten Knall auf Fall getrennt. Offenbar auch deshalb, weil der Russe zu fordernd auftrat. «Ich hatte das Gefühl, dass die Überbelastung meines Körpers auch auf seine Vorstellungen zurückzuführen war, wie ich trainieren sollte», sagte Bencic vor Wimbledon im Interview zur «NZZ».
Wäre es nicht Wimbledon, wäre es nicht Rasen, wäre es nicht das Turnier, von dem sie sagt, sie wolle es unbedingt einmal gewinnen, Belinda Bencic wäre wohl gar nicht angetreten. «Als ich nach Wimbledon kam, dachte ich dauernd: Geht es mit der Schulter? Habe ich Schmerzen?» Sie müsse alles immer in Perspektive setzen und sagen: «Ich bin froh, kann ich spielen.»
Der Körper spricht gegen Belinda Bencic. Doch es gibt eine Zahl, die im Duell mit der klar favorisierten Polin Iga Swiatek (22) für sie spricht: Erst einmal traf Bencic bei einem Grand-Slam-Turnier auf eine Nummer 1. Und weil sie 2019 im Achtelfinal der US Open die damalige Titelverteidigerin Naomi Osaka besiegte, ist ihre Bilanz auf dieser Stufe bisher makellos.
Dass sie in einem Duell mit einer aktuellen Nummer 1 der Welt nicht in Ehrfurcht erstarrt, sondern oft zur Bestform aufläuft, beweist auch der Umstand, dass Bencic Bencic die Hälfte dieser acht Spiele gewonnen hat.
Für Bencic wird es gegen Iga Swiatek der zweite Auftritt auf dem Centre Court von Wimbledon, der erste seit sieben Jahren. Damals erfuhr Bencic während einer Partie von Roger Federer gegen den Briten Marcus Willis, dass sie auf dem bedeutendsten Platz der Tennisgeschichte spielen würde, wenn der Baselbieter in drei Sätzen gewinnen würde.
Die erste Partie der damals 19-jährigen Bencic war auf Platz 3 angesetzt gewesen und war wegen Regens nicht etwa vertagt, sondern verschoben worden, unter das geschlossene Dach. Federer gewann, «und für mich wurde ein Traum. Ich hatte Hühnerhaut am ganzen Körper», sagte Bencic.
Bencic gewann die Partie in zwei Sätzen und sagte danach, dort zu spielen fühle sich grossartig an. «Ich kann es nicht erklären, aber ich war total fokussiert. Ich hoffe, dass dies bald mein Court wird. Dass ich noch oft dort antreten kann, auch zu wichtigeren Matches.» Die gute Premiere werde ihr immer in Erinnerung bleiben, «darauf kann ich aufbauen». Es kam anders.
20 Stunden später musste sie gegen die amerikanische Qualifikantin Julia Boserup (WTA 225) wegen einer Verletzung am Handgelenk aufgeben.
Zwar etablierte sich Belinda Bencic seither in der erweiterten Weltspitze, gewann sieben Turniere und wurde 2021 in Tokio Olympiasiegerin. Bei den Grand-Slam-Turnieren blieb ihre Bilanz indes bescheiden. 2019 stand sie bei den US Open im Halbfinal, dazu zwei weitere Male im Viertelfinal. Bei ihrem Lieblingsturnier Wimbledon kam sie zwei Mal in den Achtelfinal.
Gegen die vierfache Grand-Slam-Siegerin Iga Swiatek rechnet sie sich dennoch Chancen aus. Bencic sagt: «Ich habe nichts zu verlieren. Gewinne ich, ist es unglaublich.» Swiatek sei die derzeit beste Spielerin der Welt, mehr noch: «Niemand hat sich im Frauen-Tennis je so gut bewegt wie sie.»
Swiatek führt seit April 2022 die Weltrangliste an. Zwar gewann Swiatek 2018 wie Bencic fünf Jahre vor ihr in Wimbledon bei den Juniorinnen, bei den Erwachsenen kamen aber beide noch nie weiter als in den Achtelfinal.
Zuletzt standen sich die beiden beim United Cup in Brisbane Anfang Jahr gegenüber, wo Swiatek mit 6:3, 7:6 gewann. Anfang 2021 gewann Swiatek im Final von Adelaide, im Herbst des gleichen Jahres setzte sich Bencic im Achtelfinal der US Open durch. Vor dem vierten Duell, auf dem Centre Court sagt Bencic: «Ich erwarte von mir, dass ich gut spiele.»
Diesmal tritt sie nicht aus Zufall und wegen Regens auf dem Centre Court von Wimbledon an, sondern weil sie es sich verdient hat. Und vielleicht wird der Centre Court doch noch zu ihrem Platz. Ungeschlagen ist sie dort jedenfalls noch.