Mindestens eine Woche will sie in Wimbledon bleiben, noch besser wären zwei, sagt Belinda Bencic. Denn sie habe eine wichtige Mission, zu erfüllen, die aus nicht weniger als 3000 Teilen bestehe. Es ist ein grosses Puzzle.
Es gibt kaum ein Bild, das besser zu ihrer Karriere. Sie gleicht der ewigen Suche nach dem letzten, nach dem entscheidenden Puzzlestein, der aus einer sehr guten eine aussergewöhnliche Tennisspielerin macht. Der den Traum wahr werden lässt, den sie hegt, seit sie als Mädchen zum ersten Mal ein Racket in die Hand genommen hat: den vom Grand-Slam-Titel.
Belinda Bencic ist zwar Olympiasiegerin, sie war die Nummer 4 der Welt, hat sieben Turniere gewonnen und gehört seit Jahren zur Weltspitze. Bei Grand-Slam-Turnieren aber hat man sich an Niederlagen gewöhnt, ohne dass diese noch grosse Wellen werfen. In 31 Anläufen ist sie nur drei Mal über die Achtelfinals hinausgekommen. Ihr bestes Resultat ist ein Halbfinal bei den US Open 2019. Auch bei ihrem Lieblingsturnier in Wimbledon ist ihre Bilanz überschaubar. Zuletzt scheiterte sie zwei Mal in der Startrunde.
Mit dem Russen Dimitri Tursunow als Trainer glaubte Bencic den letzten Stein für ihr Erfolgspuzzle gefunden zu haben. Turniersieg in Adelaide und Abu Dhabi, der Achtelfinal bei den Australian Open und die Rückkehr in die Top Ten der Weltrangliste waren die Früchte der Zusammenarbeit.
Doch Anfang April, nach nur acht Monaten, trennten sich Tursunow und Bencic Knall auf Fall. «Ich setzte sehr grosse Hoffnungen in ihn. Doch auf einmal tauchten Probleme auf, die ich nicht hatte kommen sehen», sagte Bencic. «Es waren Dinge, die schwer zu ignorieren sind.» Seither ist Matej Liptak ihr Trainer. Der 45-jährige Slowake betreute zuvor Spielerinnen wie Petra Kvitova, Daniela Hantuchova oder Dominika Cibulkova.
Auch wenn Bencic sich mit der Zusammenarbeit zufrieden zeigt, sie als Erfolgsmodell zu bezeichnen, wäre vermessen. Denn seit April hat sie nur ein Spiel bestritten und in der ersten Runde der French Open verloren. Erst hatte sie eine Verletzung am Bein, danach bereitete die Schulter Probleme.
In Wimbledon sagt sie: «Ich bin wieder in eine Negativspirale geraten.» Wie 2017, als sie immer öfter verletzt war, immer mehr Spiele verlor, erst das Vertrauen in den Körper und dann auch in sich verlor. Ein Teufelskreis, dem sie sich diesmal entzog. Seit Paris hat Bencic kein Turnier bestritten und nur noch trainiert. Erstmals überhaupt spielte sie vor Wimbledon kein Turnier auf Rasen, der Lieblingsunterlage, auf der sie 2015 als 18-Jährige in Eastbourne ihren ersten Titel gewann und ihr die Tenniswelt zu Füssen lag.
Damals, als bei ihr alles mit unbeschwerter Selbstverständlichkeit geschah. Der erste Grand-Slam-Titel? Der Vorstoss an die Spitze der Weltrangliste? Beides schien nur eine Frage der Zeit. Nichts davon traf ein. Verletzungen und die Abnabelung von Vater und Trainer Ivan kamen dazwischen.
Belinda Bencic glaubte, die Komfortzone verlassen zu müssen. Nun, nach der Enttäuschung mit Tursunow, ist sie offenbar das, was sie sucht und was ihr Halt gibt. Nach Wimbledon begleitet haben sie neben Freund und Fitnesstrainer Martin Hromkovic, Liptak und einem Physiotherapeuten auch Vater Ivan und Mutter Dana. «Zum ersten Mal seit langer Zeit», wie Bencic mit einem Lächeln im Gesicht sagt. Die Familie gibt ihr Nestwärme.
Das Puzzle zu legen, das aus 3000 Steinen besteht, ist keine Mission, die sie alleine angeht. Alle, die mit ihr im gemieteten Haus nahe des Aorangi Parks wohnen, wo die Trainingsplätze von Wimbledon sind, helfen mit.
Eine Aufgabe, die mit Fleiss und Beharrlichkeit verbunden, aber lösbar ist. Eigenschaften, die im Leistungssport unabdingbar sind, aber Erfolg noch nicht garantieren. Welcher der entscheidende Stein in ihrem persönlichen Erfolgspuzzle ist, und wo sie ihn findet? Nie seit ihrem Olympiasieg 2021 in Tokio schien Bencic weiter von der Antwort entfernt zu sein als jetzt.
Statt nach Veränderung steht ihr der Sinn nach Stabilität. Was wächst, sind die Zweifel, ob aus der Olympia- noch eine Grand-Slam-Siegerin wird. In Australien sagte sie auf die Frage, ob ihr langsam die Zeit davonlaufe: «Ja und nein. Letztes Jahr war ich enttäuscht, dass ich meinem Ziel nicht näher gekommen bin. Das hat mich schon etwas gestresst. Doch meine Karriere dürfte noch so lange dauern, dass ich schon noch eine Chance bekomme.» Es klingt eher nach Prinzip Hoffnung und Zufall. (aargauerzeitung.ch)