Die grosse Überraschung der diesjährigen Ausgabe der Tour de France heisst Biniam Girmay. Der Eritreer holte am 1. Juli zwischen Piacenza und Turin den ersten Etappensieg am prestigeträchtigsten Rennen überhaupt. «Als ich begonnen habe, Rad zu fahren, hätte ich mir niemals erträumt, an der Tour de France zu starten. Und nun habe ich bei meinem zweiten Tour-Start eine Etappe gewonnen. Unglaublich», sagte er nach dem Erfolg.
Es blieb nicht bei diesem einen, geschichtsträchtigen Tagessieg: Sowohl in Colombey les Deux Églises als auch in Villeneuve-sur-Lot überquerte er die Ziellinie als Erster und steht nun bei drei Etappensiegen. Der Fahrer des Teams Intermarché-Wanty trägt aktuell als Führender der Sprintwertung das Maillot vert.
Girmay, der lange gedacht hatte, dass die Tour de France «nur etwas für Weisse oder europäische Menschen» sei, wie er gegenüber Eurosport erklärte, startet in diesem Jahr erst zum zweiten Mal am Rennen durch Frankreich. Erst durch die Worte seines Vaters («Du kannst es erreichen, wenn du hart arbeitest») und Wegbereiter wie Daniel Teklehaimanot und Merhawi Kudus, beide Fahrer aus Girmays Heimatland Eritrea, sei ihm überhaupt bewusst geworden, dass auch er es eines Tages schaffen könne.
Nun hat Girmay seine beiden Idole sogar noch übertrumpft, denn weder Teklehaimanot noch Kudus konnten in ihrer Karriere bisher einen Etappensieg an einer grossen Tour feiern.
Der Erfolg des 24-Jährigen kommt aber nicht etwa aus heiterem Himmel. Im Jahr 2022 gewann er mit Gent-Wevelgem den Klassiker auf Kopfsteinpflaster und holte sich einen Etappensieg am Giro d'Italia, ausgerechnet im Land, das bis 1941 als Kolonialmacht in seiner Heimat herrschte. 2023 triumphierte er an einer Etappe der Tour de Suisse.
Egal wo er gewinnt, Girmay schreibt mit seinen Siegen immer wieder Geschichte. Manchmal sind diese Geschichten auch weniger glorreich, etwa als er an der Siegerehrung beim Giro d'Italia vom Korken der Champagner-Flasche am Auge getroffen wurde und daraufhin pausieren musste.
In der eritreischen Hautpstadt Asmara auf 2300 Metern über Meer aufgewachsen ist Girmay nicht nur ein hervorragender Sprinter, sondern auch ein ganz passabler Kletterer. Sein deutscher Teamkollege Georg Zimmermann zeigte sich nach Girmays Etappensieg an der Tour de France überrascht. Nicht etwa, weil er am Können seines Kollegen gezweifelt hatte, sondern vielmehr aufgrund der Beschaffenheit der Etappen: «Er ist ein herausragender Rennfahrer, aber eigentlich eher bei schwierigen Sprints auf schwierigeren Strecken. Von daher ist es auch für uns zumindest eine halbe Überraschung.»
Wenn Girmay gewinnt, ist das in Eritrea nicht etwa eine Randnotiz. Im kleinen Land am Roten Meer ist das Fahrrad nicht nur als alltägliches Fortbewegungsmittel beliebt, sondern auch das wettkampfmässige Fahren begeistert. Von den 500 Fahrern der Teams der höchsten UCI-Kategorie sind nur fünf schwarze Afrikaner. Vier dieser fünf Fahrer stammen aus Eritrea.
Sechs Jahre nachdem Girmay das Fussballspielen aufgegeben hatte und mit dem Fahrrad seines Bruders angefangen hatte zu trainieren, führte ihn sein Weg in die Schweiz. In Aigle befindet sich der Sitz des Radsport-Weltverbands (UCI). Es ist gleichzeitig der Ort, an dem Talente gefördert werden, die nicht aus einem der führenden Kontinente im Radsport (Europa, Amerika, Australien) stammen. Das Ziel dieses Programms ist die Internationalisierung des Radsports.
Der Grund, weshalb Girmay in Afrika mit seinem Erfolg ziemlich alleine dasteht, sei nicht etwa, dass es dort weniger Talente gäbe, so Girmay, sondern liege vielmehr darin, dass wenige von einer Förderung profitierten, wie sie der 24-Jährige erhalten hat. Deshalb plädiert der dreifache Tour-de-France-Etappensieger dafür, dass sich Scouts verstärkt auch in Afrika umsehen. Etwas, das auch Intermarché-Wanty-Chef Aike Visbeek fordert: «Auf den Erfolg von Biniam hat ein ganzer Kontinent gewartet. Er ist der lebende Beweis dafür, dass es in Afrika Toptalente gibt. Die europäischen Mannschaften sollten auch dort auf die Talentsuche gehen.»
Wenn Girmay gewinnt, denkt er auch immer an seinen Kontinent und die Euphorie, die er damit in seinem Land auslöst: «Mein Leben hat sich in wenigen Tagen extrem verändert. Ich bin stolz, dieses Shirt zu tragen. Stolz für mein Team, meine Familie und den ganzen afrikanischen Kontinent. Das ist unser Moment, unsere Zeit», sagte er nach seinem dritten Etappensieg.
🇪🇷🤩 Eritrean fans made it to Torino, they must have been quite satisfied with stage 3 finale !
— Tour de France™ (@LeTour) July 1, 2024
🇪🇷🤩 Les fans érythréens se sont déplacés à Turin et sont ravis du dénouement de l’étape 3 !#TDF2024 pic.twitter.com/bHo3DFq9u1
Als Daniel Teklehaimanot und Merhawi Kudus 2015 von der Tour de France zurückkehrten – Ersterer hatte drei Tage lang die Wertung der Bergfahrer angeführt –, wurden sie in Eritrea wie Helden empfangen. Umso grösser dürfte also der Jubel sein, wenn Girmay mit (mindestens) drei Etappensiegen zurückkehrt. Dass Afrika auch durch Fahrer wie Girmay immer mehr auf den Radar des Radsports rückt, zeigt auch die Entscheidung des UCI, die Strassenweltmeisterschaften für das Jahr 2025 nach Kigali, Ruanda zu vergeben.