Nein, dieser Freitag war nicht der Tag der Marlen Reusser. Erst stürzte sie, war nach Auskünften ihres Teams SD Worx in den gleichen Sturz verwickelt wie ihre Teamkollegin Lotte Kopecky. Die Belgierin konnte wieder ins Peloton aufschliessen und wurde noch Etappendritte hinter der in Gelb siegenden Marianne Vos. Reusser hingegen kam eine Viertelstunde später als eine der Letzten in Rosheim an. Als sie im Bus von den Tourärzten versorgt wurde und draussen bereits der Krankenwagen wartete, der sie ins Spital bringen sollte, fiel auch noch das Plüscheichhörnchen aus dem Bus heraus. Das Stofftier erhielt sie als Siegerin der 4. Etappe.
Glück und Pech liegen so nah bei einer Grand Tour. Am Mittwoch war Reusser noch glücklich, wie die offensive Strategie ihres Teams ihr den Weg zum individuellen Erfolg geebnet hatte. Sie fasste die Ereignisse zusammen:
Auf den letzten 23 Kilometern spielte die 30-Jährige ihre ganze Stärke als Vizeolympiasiegerin und Vizeweltmeisterin im Zeitfahren aus.
Der Sieg entschädigte auch für ein an Tiefschlägen reiches Frühjahr. Erst verletzte sie sich bei einem Sturz am Handgelenk, dann kam Corona. «Deshalb verpasste ich auch die Tour de Suisse. Darüber war ich sehr traurig», sagte sie dieser Zeitung. Rechtzeitig zur Tour war sie aber wieder fit. Sie geniesst vor allem die Atmosphäre des Rennens. «Es sind sehr viele Leute da, die zuschauen, auch in den Dörfern, in den Anstiegen. Das macht schon Freude, das zu sehen. Es ist eine spezielle Atmosphäre und macht total Spass.» Sie selbst versucht dabei aber auch, die Ruhe zu bewahren. «Viele sind hier besonders motiviert, weil es sich um die Tour handelt. Ich bin normal motiviert. Für mich ist es ein Radrennen», sagt sie, und lächelt. Mit Sorge betrachtet die promovierte Ärztin die vielen Stürze. Sie sagt:
Besorgt ist sie auch über die Magersucht bei einigen Kolleginnen. Gewicht zu reduzieren ist besonders für Bergfahrer beiderlei Geschlechts interessant. Mit gleichem Krafteinsatz kommt ein leichterer Athlet schneller hoch. Riskant ist allerdings, dass die Knochendichte auch abnimmt. Reusser fordert deshalb Massnahmen vom Weltverband UCI gegen Magersucht.
Ob sie zur 7. Etappe am Samstag und zur Schlussetappe vom Sonntag antreten kann, war am Freitagabend noch unklar. Sicher ist nur, dass Reusser für den bislang grössten Erfolg der Schweizerinnen bei dieser Tour gesorgt hat.
Elise Chabbey könnte allerdings am Wochenende noch auftrumpfen. Die Genferin ist in den Top 10. «Sie soll unsere Leaderin Kasia Niewadoma in den Bergen begleiten. Und wir hoffen, dass sie dabei lange vorn bleibt und im Klassement ihre Position halten oder gar noch verbessern kann», sagte Ronny Lauke, Teamchef von Chabbey. Trotz des Pechs von Vorzeigefahrerin Reusser sind die Chancen der Schweizerinnen nicht verschwunden.