Alles war angerichtet für das grosses Fest. Es fehlte an diesem Samstagmorgen nur noch die frohe Botschaft aus dem fernen Seoul. 15'000 Leute hatten in Sitten vor dem Grossbildschirm Platz genommen. Ein Teil davon war um Mitternacht mit dem halbstündigen Feuerwerk in den historischen Tag gestartet. Die meisten Bars und Restaurant waren für einmal die ganze Nacht lang offen geblieben. Auch in anderen Walliser Gemeinden standen Grossbildschirme, warteten Tausende gespannt, aber vor allem siegessicher auf die Neuigkeiten aus Südkoreas Hauptstadt.
Und dann der Schock um 7.30 Uhr Schweizer Zeit. IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch verkündete aus dem Seouler Shilla-Hotel: «And the winner is Torino.» Adolf Ogi, der sportbegeisterte Bundesrat, faltete wenige Meter von Samaranch entfernt die Hände vor dem Gesicht. «Unter vier Augen hatte mir der damalige IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch die Spiele versprochen», erklärt Ogi Jahre später. Der Ausgang kam für ihn auch darum überraschend.
In der Schweizer Ecke herrschte minutenlange Fassungslosigkeit, Tränen flossen. Auch Stunden später in einem Saal, in dem die Siegesfeier hätte stattfinden sollen, konnte die 300-köpfige Schweizer Delegation kaum fassen, was geschehen war.
In Sitten flogen Bierflaschen Richtung Grossbildschirm, das eine oder andere Glas zerschellte. Es fielen böse Worte. Aber vor allem löste sich die ganze Gesellschaft auf der Place de la Planta in hohem Tempo auf. In der Innenstadt hörte man vereinzelt noch IOC, Mafia und Korruption in rascher Abfolge. Am Fernsehen versuchten Prominente, einigermassen die Contenance zu bewahren. Einigen gelang es besser als anderen. Ski-Rennfahrer Didier Plaschy meinte: «Eine verdammte Schweinerei!»
Die Kandidatur «Sion 2006» hatte sich mit ihrem Dossier Bestnoten von den Experten geholt. Alles schien perfekt durchdacht und aufgegleist. Die Wettkampf-Stätten überzeugten genauso wie die Lokalitäten. Die Bevölkerung war bereit, die Athleten mit offenen Armen zu empfangen. 67 Prozent der Walliser hatten sich für die Olympischen Spiele ausgesprochen. Und die Stimmenzähler in den Reihen der Schweizer Delegation in Seoul hatten auch unter den IOC-Mitgliedern eine Mehrheit für das Sittener Projekt ausgemacht.
Zu spät bemerkten Ogi und Co. in Seoul, dass die Turiner bei ihrem Lobbying in den letzten Tagen vor der Vergabe auf die persönlichen Ressentiments der IOC-Mitglieder gesetzt hatten. Der Berner Anwalt Marc Hodler wurde zum Hauptargument gegen Winterspiele in Sion. Der langjährige FIS-Präsident hatte wenige Monate zuvor den Bestechungsskandal um die Vergabe der Winterspiele nach Salt Lake City (2002) aufgedeckt und damit viele seiner IOC-Kollegen in Bedrängnis gebracht oder verärgert. Erst am Vorabend der Wahl wurde den Schweizern klar, dass der Wind gedreht hatte. Für eine Korrektur war es zu spät. Die IOC-Vollversammlung sprach im finalen Wahlgang ein klares Verdikt: 53:36 Stimmen für Turin.
Thomas Bach, der heutige IOC-Präsident aus Deutschland, meinte: «Turin ist bei der Präsentation konkreter gewesen. Es ist der Stadt besser gelungen, ihre Vorteile herauszustellen.» Das Neuenburger IOC-Mitglied Denis Oswald sah das anders: «Das Resultat ist irrational. Die Leute im IOC haben immer noch nicht begriffen, dass man Spiele für die Athleten mit den technisch besten Möglichkeiten durchführen sollte. Es hat auch keinen Sinn, nochmals zu kandidieren. Wenn diese Bewerbung nicht genügt hat, warum sollte die nächste gewinnen? In den nächsten zwanzig Jahren wird es kaum wieder eine Schweizer Kandidatur geben.»
Tatsächlich scheiterten die letzten Versuche, eine Schweizer Kandidatur auf die Beine zu stellen, entweder am fehlenden politischen Willen oder an der Ablehnung der Stimmbürger. Im Juni 2018, also fast 20 Jahre nach der Schlappe gegen Turin, sagten 54 Prozent der Walliser Nein zu einem benötigten 100-Millionen-Kredit und beerdigten damit die Bewerbung «Sion 2026». Bis auf Weiteres bleiben die Winterspiele 1928 und 1948 in St. Moritz die einzigen olympischen Wettkämpfe in der Schweiz. Momentan ist keine Schweizer Kandidatur geplant.
Und wenn man dann angeschaut hat, wie sich das weiterentwickelt hat. Ich bin mittlerweile dafür, keinen einzigen Franken in eine Kandidatur zu stecken, solange die sich gewohnt sind, dass austragende Orte Millionen Steuergelder (oder Quasidiktatorengelder) investieren und auf jegliche Sozial-, Fairness- oder Naturaspekte scheissen.
Wenn sie dann wieder ökologisch und ökonomisch verträgliche Spiele für Volk und Sportler machen wollen, können wir drüber reden. Bis dann darf dann halt Russland, China oder meinetwegen gar Katar die Winterspiele austragen.