Seit seiner Kindheit war es sein grösster Traum: einmal in Wimbledon zu gewinnen. Die Voraussetzungen sind bestens: Goran Ivanisevics Spiel ist dank dem gewaltigen Aufschlag und dem starken Netzspiel wie geschaffen für Rasentennis. «Herr der Asse» wird der 1,93 Meter grosse Kroate nur genannt. 1996 stellt er mit 1477 Assen in einem Jahr eine bis heute gültige Rekordmarke auf.
Doch Ivanisevics Traum vom Wimbledon-Triumph wird mit der Zeit immer mehr zum Albtraum. Dabei hatte doch alles so gut angefangen. Als 18-Jähriger steht er 1990 bereits im Halbfinal, wo er gegen Boris Becker allerdings chancenlos ist.
Zwei Jahre später geht Ivanisevic als grosser Favorit in den Final gegen Andre Agassi. Doch obwohl er insgesamt 39 Asse serviert – zwei mehr als Agassi im gesamten Turnier – muss er sich dem US-Amerikaner in fünf Sätzen geschlagen geben. 1994 schafft es der Olympia-Bronzemedaillengewinner von Barcelona (1992) wieder ins Endspiel. Dieses Mal ist er gegen den neuen Wimbledon-König Pete Sampras chancenlos.
Nach dem Erreichen des Halbfinals 1995 steht Ivanisevic drei Jahre später nach einem denkwürdigen Halbfinalsieg gegen Richard Krajicek mit 15:13 im fünften Satz zum dritten Mal im Wimbledon-Final. Jetzt muss es doch klappen! Wieder heisst der Gegner Pete Sampras und diesmal ist der Kroate dem Amerikaner mindestens ebenbürtig. Doch wie schon so oft versagen ihm in den entscheidenden Momenten die Nerven, nach fünf hart umkämpften Sätzen muss Ivanisevic wieder als Verlierer vom Platz.
Trotz 21 Turniersiegen hat Ivanisevic längst den Ruf des ewigen Zweiten und dann werfen ihn auch noch ständige Probleme mit der Schulter zurück. Vor dem Wimbledon-Turnier 2001 liegt der Fan des englischen Fussballklubs West Bromwich Albion nur noch auf Rang 125 der Weltrangliste. Das reicht nicht für die Qualifikation für das Hauptturnier, doch die Organisatoren statten den dreifachen Finalisten mit einer Wildcard aus.
Und Ivanisevic erfüllt die Erwartungen nicht nur, er übertrifft sie sogar. Der Kroate spielt sich in einen Rausch und eliminiert der Reihe nach Fredrik Jonsson, Carlos Moya, Andy Roddick, Greg Rusedski und schliesslich in einem spannenden Fünfsatz-Halbfinal Publikumsliebling Tim Henman, der zuvor Sampras-Bezwinger Roger Federer ausgeschaltet hat. Die Partie zieht sich wegen des englischen Schmuddelwetters über drei Tage hin und kann erst am Sonntag beendet werden. «Es war alles Schicksal. Gott hat mir erst eine Wildcard gegeben und dann den Regen geschickt», sagt Ivanisevic nach seinem Sieg.
In seinem vierten Final trifft der Kroate am Montag schliesslich auf den australischen Vorjahres-Finalisten Pat Rafter und ist ganz klar der Underdog. Zum ersten Mal in der Geschichte werden die All England Championships am sogenannten «People's Monday» zu Ende gespielt. Weil für diesen Tag eigentlich keine Spiele vorgesehen sind, gehen viele der sonst exklusiven Kreisen vorbehaltenen Tickets in den freien Verkauf. Das nutzen die kroatischen und australischen Tennis-Fans und verwandeln den Centre Court in einen Hexenkessel.
Während der ganzen Partie herrscht eine Stimmung wie an einem Fussballmatch oder beim Davis Cup, was beide Spieler zu Höchstleistungen animiert. Ivanisevic legt zwei Mal mit einem Durchgang vor, doch Rafter schafft jeweils postwendend den Satzausgleich. Dabei profitiert er auch von einer fragwürdigen Schiedsrichterentscheidung.
Bei 2:3 muss Ivanisevic einen Breakball abwehren und tut das auch mit einem Aufschlagwinner, doch der Schiedsrichter will einen Fussfehler gesehen haben. Der zweite Aufschlag landet schliesslich im Aus, das Break ist Tatsache und Ivanisevic rastet aus. Er schleudert sein Racket weg und macht seinen Unmut gegenüber dem Unparteiischen klar deutlich.
Psychologisch hat Rafter im fünften Satz alle Vorteile auf seiner Seite, alle rechnen damit, dass sein Temperament Ivanisevic mal wieder zum Verhängnis wird. Doch der Kroate reisst sich zusammen. Immer wieder legt er nach, doch das erlösende Break will einfach nicht kommen. Bei 6:7 und 0:30 ist Ivanisevic nur noch zwei Punkte von dem neuerlichen K.o. entfernt, aber er zieht den Kopf noch aus der Schlinge.
Im nächsten Game hat plötzlich der fast 30-jährige Aussenseiter zwei Breakchancen. Und anders als bisher in seiner Karriere nutzt Ivanisevic diesmal die Gunst der Stunde. Mit einem Return-Winner holt er sich das Break und serviert danach zum Match. Bei 15:30 serviert der Aufschlaghüne zwei Asse und holt sich seinen ersten Matchball. Ivanisevic bekreuzigt sich und schickt ein paar Stossgebete zum Himmel, doch es nützt nichts. Ein Doppelfehler lässt den Centre Court verstummen.
Nach einem Service-Winner versagen Ivanisevic auch beim zweiten Matchball die Nerven. Wieder ein Doppelfehler. Den dritten Matchball wehrt Rafter mit einem perfekten Lob ab und der Kroate kann nur noch verzweifelt grinsen. Wenig später erspielt er sich schliesslich den vierten Matchball, doch wieder kommt der erste Aufschlag nicht.
Ivanisevic geht nun volles Risiko, serviert den zweiten Aufschlag auf Rafters Vorhand und stürmt ans Netz. Vollieren muss er nicht mehr, der Return des Australiers bleibt an der Netzkante hängen. Ivanisevic hat es endlich geschafft und sich im vierten Anlauf dank des 6:3, 3:6, 6:3, 2:6, 9:7 den Traum vom Wimbledon-Titel doch noch erfüllt.
Überglücklich stürmt er nach dem Shake-Hands am Netz in seine Box und umarmt seine Crew sowie den extra nach London gereisten Vater Srdan. Es fliessen die ersten Tränen. «Ich war mein Leben lang der Zweite. Die Leute haben mich respektiert, aber der zweite Platz ist nicht gut genug. Ich bin jetzt Wimbledonsieger. Was auch immer ich tue in meinem Leben, ich bleibe Wimbledonsieger», sagt ein von seinen Emotionen komplett überwältigter Ivanisevic.
In seiner Heimat Split wird dem Wimbledonsieger ein grandioser Empfang bereitet. Hunderttausende säumen die Strassen, als er durch die Strassen der Hafenstadt gefahren wird. «Das waren 15 magische Tage. Die besten Tage meines Lebens», wird Ivanisevic später sagen. Als Weltnummer 125 ist er auch heute noch der schwächstklassierteste Spieler, der je ein Grand-Slam-Turnier gewinnen konnte.
Mit dem Wimbledon-Titel hat der Kroate seine lange Karriere gekrönt. Wenig später unterzieht er sich der längst fälligen Schulteroperation und erklärt seinen Rücktritt. Doch 2004 kehrt er am Ort seines grössten Erfolgs noch einmal auf die Tour zurück. Bis in die 3. Runde kämpft sich der fast 33-Jährige noch einmal vor, dann beendet Lleyton Hewitt die Karriere des «Königs der Asse» endgültig.
Doch Ivanisevic wird noch einen weiteren Grand-Slam-Titel holen. 2010 entscheidet er sich, Coach zu werden, nachdem er 2005 wegen Immobiliengeschäften haarscharf am Privat-Bankrott vorbei geschlittert ist. Im September 2014 sitzt Ivanisevic dann in der Box des Arthur-Ashe-Stadions, als sein Landsmann und Schützling Marin Cilic völlig überraschend die US Open gewinnt.