Nach der Installationsrunde erreicht die Farce auf dem Indianapolis Motor Speedway ihren Höhepunkt. Nur sechs Fahrer, je zwei von Ferrari, Jordan und Minardi, verbleiben für den Grand Prix der USA in der Startaufstellung. Der Rest kehrt nach dem einen Umgang in die Boxen zurück. Die Fahrer von Sauber, McLaren, Renault, BMW-Williams, BAR, Toyota und Red Bull handeln auf Geheiss des Reifenlieferanten Michelin. Die Franzosen haben ihren Kunden im Gegensatz zu Konkurrent Bridgestone, dem Partner von Ferrari, Jordan und Minardi, Walzen zur Verfügung gestellt, die den Belastungen über eine Renndistanz nicht standhalten würden.
Das auf ein Sextett geschrumpfte Teilnehmerfeld steht am Ende eines Wochenendes, in dessen Verlauf der Sport immer mehr zur Nebensache verkommt, an dem mehr debattiert und verhandelt als gefahren wird und das Geschehen abseits der Rennstrecke ins Zentrum rückt. Auslöser der skurrilen Szenerie sind Unfälle von Ralf Schumacher und Ersatzmann Ricardo Zonta in den Toyota im freien Training am Freitag. Dem Deutschen und dem Brasilianer ist der beschädigte linke Hinterreifen zum Verhängnis geworden. Vor allem das Malheur von Schumacher, der in der erhöhten Kurve vor Start und Ziel mit Tempo 300 in der Mauer eingeschlagen ist, heizt die Diskussionen zum Thema Sicherheit an.
Zwei Toyota-Fahrer mit Unfällen aus identischem Grund – das kann kein Zufall sein. Die Techniker von Michelin gehen der Ursache auf den Grund und kommen zum Schluss, dass die in der Steilkurve wirkenden Kräfte für die zur Verfügung gestellten Reifen zu hoch sind. Materialkontrollen bei den weiteren Kundenteams bestätigen die Vermutung, dass die Mängel nicht ein spezifisches Problem von Toyota sind.
Lösungen müssen her, um den Grand Prix zu retten und die Schmach abzuwenden. Vorschläge, um dem Übel Herr zu werden, liegen bald auf dem Tisch, die Umsetzung scheitert aber am Veto der Führung des Internationalen Automobil-Verbandes FIA. Die Oberen der FIA stellen sich beim Ansinnen quer, neue Reifen mit veränderter Konfiguration aus dem Werk in Clermont-Ferrand einfliegen zu lassen. In ihrer Begründung verweisen sie auf das Reglement, das den Reifenwechsel zwischen Qualifying und Rennen nicht erlaubt. Verworfen wird auch die Idee, vor der Steilkurve zwecks Geschwindigkeitsreduktion eine Schikane einzubauen.
Es kommt das Rennen und mit ihm der Tag, an dem sich die Formel 1 bis auf die Knochen blamiert. Der Tag, an dem die wichtigste Rennserie ein weiteres Mal ihren Ruf bestätigt, ein Hort von machtbesessenen Parteien zu sein, denen es wichtiger ist, ihre Position zu bekräftigen, als im Sinne des Sports über den eigenen Schatten zu springen. Ihre Sturheit lässt keine Kompromisslösung zu. Sicherlich trägt Reifenhersteller Michelin die Hauptschuld am Desaster und handeln die FIA-Oberen mit dem Festhalten an den reglementarischen Vorgaben nach Treu und Glauben. Mit ein bisschen Fingerspitzengefühl, mit einer den besonderen Umständen geschuldeten Anpassung wäre eine für alle Beteiligten akzeptable Lösung möglich gewesen.
So aber ist der Skandal nicht mehr abzuwenden. Ausgerechnet in den USA, in dem Land, in dem sie während Jahrzehnten vergeblich um Anerkennung gekämpft hat, stellt sich die Formel 1 im Höchstmass bloss. Das mediale Echo ist entsprechend. Von der «Formel Null» ist zu lesen, von der «Formel Chaos» oder von der Formel 1, die ihre Glaubwürdigkeit verloren hat. Andere Blätter gehen noch weiter und sehen das endgültige Ende der Formel 1 in den Vereinigten Staaten gekommen. «Goodbye, Formel 1! Auf Nimmerwiedersehen, Bernie Ecclestone! Au revoir, Michelin!»
Das prognostizierte Aus in Indianapolis kommt tatsächlich, allerdings erst nach zwei weiteren Grands Prix. Danach herrscht fünf Jahre Funkstille bis zur Wiederkehr. Seit 2012 findet der Grosse Preis der USA in Austin statt, mit Miami und Las Vegas sind nun zwei weitere Rennen in den Vereinigten Staaten im Kalender der Formel 1.
Der Flop von Indianapolis zieht aber nicht nur bissige Kommentare, sondern auch ein von der FIA-Spitze inszeniertes gerichtliches Nachspiel mit sich. Am Pranger stehen neben dem Michelin-Konzern auch dessen Partnerteams. «Es kann nicht jedes Mal verhandelt werden, wenn ein Teilnehmer die falsche Ausrüstung mitbringt.» Und: «Mit ihrer Weigerung, zum Rennen nicht anzutreten, haben die Teams sich selber und dem Sport geschadet», wird aus der Zentrale des Weltverbandes in Paris übermittelt.
Der Weltrat der FIA bietet die Vertreter der sieben Rennställe schon eine gute Woche nach dem skandalösen Rennen zu einer Anhörung auf. Im Raum steht danach unter anderem eine Klage wegen Unterlassung. Die Teams werden für schuldig befunden, «unrechtmässig den Start zum Rennen abgelehnt zu haben». Weitere drei Wochen später ist aber eine mögliche Bestrafung vom Tisch. Die oberste Instanz des Verbandes sieht von einem Schuldspruch ab.
Auch ohne Sanktion lässt das Wochenende in Indianapolis nur Verlierer zurück. Selbst Michael Schumacher fühlt sich nicht als Sieger. Der Rekordweltmeister hatte den Grand Prix gewonnen. Ein Rennen, das eigentlich keines war.
Zur kompletten Farce fehlte nur noch, dass die vier Fahrer der "hinteren" Teams sich beim Start abschiessen. Und selbst dazu fehlte nicht gerade viel...