Jeder echte Fussballfan kennt die Hand Gottes. Hat einmal das Wembley-Goal gesehen. Roger Millas Tänzchen an der Eckfahne ist ihm ebenso ein Begriff wie Panenkas Penalty oder Zidanes Kopfstoss gegen Materazzi.
Und es gibt eine Szene, die im Frauenfussball berühmter ist als alle anderen: der ikonische Torjubel von Brandi Chastain. Als sie die USA 1999 zum Weltmeistertitel schiesst, nach 120 torlosen Minuten vor über 90'000 Zuschauern im Rose-Bowl-Stadion bei Los Angeles, feiert sie das Siegtor wie viele männliche Kollegen, indem sie das Trikot auszieht.
Während bei einem Mann die blanke Brust – oder eine stark behaarte – zu sehen wäre, sieht bei Chastain alle Welt einen Sport-BH. Gegen Ende des letzten Jahrtausends war das je nach Kultur und Weltgegend ein Aufreger. Noch war es nicht zu erahnen, dass heutzutage auch männliche Profis zwecks Datenerfassung Sport-BHs tragen.
Brandi Chastains Jubel schaffte es auf die Titelseiten der Zeitungen und Zeitschriften, wurde immer und immer wieder gezeigt. Irgendwann sah auch Chloe Kelly drüben in England die Bilder. Zum Zeitpunkt des WM-Finals 1999, geleitet von der jurassischen Schiedsrichterin Nicole Petignat, war sie erst eineinhalb Jahre alt.
Die Bilder der jubelnden Brandi Chastain brannten sich ins Gedächtnis ein. So sehr, dass Kelly ihren Treffer zum 2:1 für England in der Verlängerung des EM-Finals 2022 gegen Deutschland auf die gleiche Art feierte.
«Ich bin einfach durchgedreht», sprudelte es nach dem Erfolg aus der 24-Jährigen heraus. «Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich habe nicht darüber nachgedacht oder es so geplant. Aber es war in Ordnung, oder?»
Das war es definitiv. In England wurde Chloe Kelly ohnehin zur Heldin, aber auch auf der anderen Seite des grossen Teichs wurden ihr Treffer und ihr Jubel registriert. Brandi Chastain gratulierte höchstpersönlich – und blickte in Kellys Zukunft: «Geniesse das kostenlose Bier und Essen, das du für den Rest deines Lebens in ganz England erhalten wirst. Cheers!»
Chastain sagte später über ihren Jubel, sie habe «kurz die Kontrolle verloren». Der Berner «Bund» nannte es einen Fauxpas, die Torschützin habe «die prüden Amerikaner dadurch geschockt, dass sie sich ihr Shirt über den Kopf zog». Wobei vielleicht auch alles kalkuliert war und die 192-fache US-Nationalspielerin ganz genau wusste, was sie tat.
Denn der schwarze Sport-BH von Sponsor Nike wurde umgehend zum grossen Renner. «Diese zehn Sekunden auf dem Rasen des Rose-Bowl-Stadions waren alles, was Nike braucht, um mehr BHs zu verkaufen, als man produzieren kann», freute sich Marketing-Chef Allen Adamson. «Brandis Strip war also ein abgekartetes Werbespiel, mit dem sie ihren Busen vergolden kann», lautete das Fazit des «SonntagsBlicks».
Der «Swoosh» auf dem Büstenhalter war auf allen Fotos zu sehen. Und nicht nur darauf: Seit 2019 jubelt Brandi Chastain vor der Rose Bowl in Pasadena in Bronze.
An diesem Bild war nie und ist nichts anzügliches dabei. Es zeigt einfach auf eindrückliche und unvergessliche Art und Weise die Freude der Protagonistin nach dem Sieg. Man kann das, was in ihrem Inneren in diesem Moment abgeht, voll und ganz nachvollziehen. Es ist, wie wenn sich diese Freude auf einen selbst überträgt.
Auch jetzt noch. 26 Jahre später.
(Ich kannte das Bild vorher nicht)