«England 2 Germany W. 2» steht auf der Anzeigetafel im Wembley-Stadion. Dort verfolgen Königin Elizabeth II. und rund 97'000 Fans ein Fussball-Drama. Kurz vor dem Ende der regulären Spielzeit im WM-Final am 30. Juli 1966 hat Wolfgang Weber den 2:2-Ausgleich für «West-Deutschland» erzielt.
Seit zehn Minuten läuft die Verlängerung, als Nobby Stiles den Ball auf Alan Ball passt. Der flankt zu Geoff Hurst. Hurst schiesst den Ball an die Unterkante der Latte. Der Ball prallt nach unten ab. England jubelt. Deutschland protestiert. Und Fernsehzuschauer in der Bundesrepublik hören den aufgeregten Kommentator Rudi Michel mit den inzwischen legendären Worten: «Hei! Nicht im Tor! Kein Tor!»
Sekunden später korrigiert Michel: «Oder doch? Jetzt, was entscheidet der Linienrichter?» Der 1998 verstorbene Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst fragt den sowjetischen Linienrichter Tofik Bachramow, der bei der Situation beste Sicht hatte. Und Bachramow entscheidet tatsächlich auf Tor. «It's a goal!» ruft Michels BBC-Kollege Kenneth Wolstenholme.
50 Jahre später ist sich Hurst immer noch sicher: «Der Ball war drin.» Obwohl er es selbst kaum erkennen konnte. In der britischen «Daily Mail» erinnert sich der Torschütze: «Ich hatte wahrscheinlich die schlechteste Sicht im ganzen Stadion. Ich war hingefallen und schaute über meine Schulter. Der Ball fiel direkt hinter Torwart Hans Tilkowski runter.»
In vollem Durchmesser hinter der Linie war der Ball allerdings nicht. Filmaufnahmen beweisen das. Oft wird in England ein Standbild gezeigt, auf dem es so aussieht, als sei der Ball hinter der Linie. Nur wer genau hinschaut, sieht den Schatten. Der Ball ist noch in der Luft und landet dann zumindest teilweise auf der Linie. «Mir ist seit 50 Jahren klar, dass er nicht drin war», sagt Tilkowski im Interview der «Sport Bild». «Dazu brauche ich auch keinen Videobeweis, das war eindeutig.»
«Dass es kein Tor war, wissen wir alle», stellt auch Uwe Seeler klar. Der deutsche Captain von 1966 stand im Strafraum ganz in der Nähe. «Dienst war ein erstklassiger Schiedsrichter. Ich weiss nicht, was ihn da geritten hat.» Doch Seeler gibt auch zu: «Wenn er das für uns gepfiffen hätte, hätten wir es wahrscheinlich auch angenommen. Insofern können wir den Engländern nicht böse sein.»
Umstritten ist aber nicht nur das «third goal», das dritte Tor, wie die Engländer das Wembley-Tor nennen. Auch das 4:2 unmittelbar vor dem Abpfiff hätte nicht zählen dürfen. Denn als Hurst sein drittes Tor der Partie erzielt, haben schon mehrere Zuschauer den Platz gestürmt. «Sie denken, es ist schon vorbei», ruft BBC-Mann Wolstenholme kurz vor dem Treffer. «Das ist es jetzt!» Der Satz ist längst eine Redewendung in England.
Der Triumph von Wembley hallt bis heute nach, auch weil die englische Nationalmannschaft seitdem nie wieder ein grosses Turnier gewonnen hat. Kein Wunder, dass Anhänger der «Three Lions» gern von 1966 träumen. «Als Stärkung für englische Fussball-Fans in einem weiteren enttäuschenden Sommer» veranstaltet die BBC eine Themenwoche mit grosser Feier in der Wembley Arena direkt neben dem Stadion.
Richard Maddock, Chefredaktor bei BBC Radio 5 Live, verspricht: «Nach fünf schmerzvollen Jahrzehnten erinnern wir uns, wie wir die Könige der Fussball-Welt waren.» Sie werden sich einig sein: Der Ball war drin.
Schliesslich hat ein Team der «Sky Sports Monday Night Football» um Ex-Nationalspieler Jamie Carragher und Moderator Ed Chamberlin bereits im Januar das ganze Spiel und eben auch das Wembley-Tor von Geoff Hurst analysiert. Und mit «modernster EA-Sports-Technologie» herausgefunden, dass der Ball tatsächlich drin war.
Und in Deutschland? Für den WM-Finalisten von 1966 gibt es keine grosse Feier, aber eine Sonderausstellung im Fussballmuseum in Dortmund: «50 Jahre Wembley – der Mythos in Momentaufnahmen». Zur Eröffnung am Sonntag werden neben Seeler und Tilkowski auch Siggi Held und Wolfgang Overath erwartet. Auch dort keine Diskussion. Die Angelegenheit ist schliesslich klar: «Nicht im Tor! Kein Tor!» (pre/sda/dpa)