Wo beginnt man bei so einer Biografie? Bei den Zähnen, die er sich nie putzt und die ihm deshalb alle ausfallen? Bei seinen Sprüchen? Bei seinen Alkoholgeschichten, seinem Sturz von der Bühne, seinen Depressionen?
Vielleicht erzählt man die Geschichte von John Thomas Wilson, den alle nur Jocky nannten, am besten einfach von Anfang an. Beginnend mit seiner Kindheit in Kirkcaldy, einer kleinen Küstenstadt im Osten von Schottland. Wilson hat keinen einfachen Start ins Leben. Er wächst in einem Waisenhaus auf, weil die Behörden seine Eltern für untauglich abstempeln, ein Kind grosszuziehen.
Nach seiner Zeit in der Armee absolviert Wilson eine Ausbildung zum Koch und arbeitet als Bergmann in einer Zeche, wo er seine Frau fürs Leben kennenlernt. Er heiratet die in Argentinien geborene Halbschottin Malvina. Das Paar bekommt drei Kinder und lebt in ärmlichen Verhältnissen.
Sportsmanship at its best. pic.twitter.com/wA4kdlgvKw
— Mick Edmondson (@MadMickToonDJ) December 28, 2023
Der Darts-Reporter Sid Waddell, nach dem heute die WM-Trophäe benannt ist, beschreibt in Wilsons Nachruf im «Guardian» den Wendepunkt in dessen Leben: «Jocky erlebte eine Demütigung, die sein Schicksal verändern sollte. Er wurde beim Dartspielen im Pub so fürchterlich bezwungen, dass er sich eine Scheibe organisierte und fünf Stunden am Tag übte, um besser zu werden.»
Jocky Wilson wird tatsächlich besser und besser. So gut, dass er sich 1979 – in der Zwischenzeit arbeitslos geworden – erstmals für eine WM qualifiziert. Der 29-Jährige ist einer von 24 Teilnehmern. Zwar scheitert er schon im Viertelfinal, aber fortan gehört er zu den besten Spielern der Welt. Die Fans lieben den unberechenbaren Wilson mit seinem ungewöhnlichen Wurfstil. Ein Journalist beschreibt diesen als «ein ausgeprägtes Schnipsen mit den Fingern, manchmal von einem Grunzen begleitet».
1983 World Darts Championship, Jocky Wilson went for a 9-dart finish, which had never been done on television before. The prize money for the feat was £30,000 🎯🚬🍺 pic.twitter.com/WzuqkQWJp5
— TheMonk88 (@themonk1967) January 3, 2024
Zähne besitzt er zu diesem Zeitpunkt keine mehr, sie sind ihm alle ausgefallen. «Meine Grossmutter hat mir gesagt, dass die Engländer das Wasser vergiften», begründet er, weshalb er sein Leben lang aufs Zähneputzen verzichtet hat. Dass er ständig Süssigkeiten nascht, ist seinen Beissern auch nicht besonders zuträglich.
Nicht ungewöhnlich für Spieler jener Zeit ist das Trinkverhalten des untersetzten Schotten, der einmal festhält: «Ich bin klein und dick, na und? So ist das Leben. Und im Fernsehen sieht man sowieso fetter aus.» Er greift allerdings noch häufiger als die anderen Spieler zur Flasche. Waddell erinnert sich an ein Turnier 1981, als Jocky Wilson während des Halbfinals so betrunken ist, dass er kaum mehr gehen kann.
Wilsons Management reagiert darauf, indem es den Spieler vor grossen Matches in einen Raum mit viel Essen und einigen Dosen mit schwachem Bier sperrt. Ein Vorhaben, das zum Erfolg führt. An der WM 1982 im Jollees Cabaret Club in Stoke-on-Trent zieht Jocky Wilson in den Final ein. Nach glanzvollen 4:0-Siegen in Viertel- und Halbfinal trifft er dort auf den Engländer John Lowe. Er schlägt den Weltmeister von 1979 mit 5:3 und gewinnt den wertvollsten Titel seines Sports.
Jocky Wilson with the Embassy Darts World Championship trophy in 1982. pic.twitter.com/vprkiFTws1
— PictureThis Scotland (@74frankfurt) January 4, 2024
Mit einem Teil des Preisgelds leistet er sich ein neues Gebiss. «Aber damit konnte er sich nie anfreunden. Er beschwerte sich, dass er deswegen beim Trinken rülpsen musste», schreibt der Journalist Jamie Jackson, der viele Jahre nach dessen Rücktritt versucht, Wilson aufzustöbern. Einmal fliegt das Gebiss beim Feiern eines Sieges auf der Bühne aus Wilsons Mund, ein anderes Mal benutzt er es als Positionsmerker beim Billard.
6500 Pfund beträgt der Siegercheck für diesen WM-Titel. Das klingt nach wenig, ist zu jener Zeit aber viel Geld. Das Haus, das Wilson sich einige Jahre und einige Erfolge später kauft, kostet ihn 40'000 Pfund. Doch er investiert die Scheine nicht nur in Backsteine, sondern führt es auch zu oft Brauereien und Destillerien zu.
An der WM 1984 stürzt er betrunken von der Bühne. «Ich habe die Partie kommentiert, und Jocky hatte alles im Griff», erzählt BBC-Reporter Tony Green. «Aber damals durfte man auf der Bühne trinken und rauchen, und er hat das stets ausgekostet. Er kippte Bier um Bier runter, sein Spiel litt darunter und er verlor mit 4:5.»
Die Episode trägt ihren Teil dazu bei, dass Jocky Wilson mittlerweile der unbestrittene Star der Szene ist. «In einer Welt voller Doppelkinne, Geheimratsecken und etwas zu eng anliegenden Nylonshorts schaffte er es, noch hervorzustechen», hält Reporter Jackson fest.
Wilson ist womöglich etwas zu naiv für die grosse Welt, aber dafür ist er charmant, unterhaltsam und ein Mann des Volkes. Der charismatische Dartspieler ist so beliebt, dass in der überaus populären TV-Show «Top of the Pops» als Gag sein Bild eingeblendet wird, als die Dexys Midnight Runners «Jackie Wilson Said» singen. Und 1988 wird er zu einem der ersten Sportler, dem ein Computerspiel gewidmet wird: «Jocky Wilson's Darts Challenge».
1989 setzt der Schotte seiner Karriere die Krone auf. Im Lakeside Country Club in Frimley Green wird er zum zweiten Mal Weltmeister. Wilson schlägt Eric Bristow, den fünffachen Weltmeister und besten Spieler der 80er-Jahre, mit 6:4. Mit seinem Final-Average von 94,31 Punkten würde er auch in der Neuzeit noch die eine oder andere Runde an einer WM überstehen. Im Jahr darauf wird übrigens ein gewisser Phil «The Power» Taylor seinen ersten von 16 WM-Titeln gewinnen.
Als Anfang der 90er-Jahre der heute dominierende Konkurrenzverband PDC aus der Taufe gehoben wird, gehört Jocky Wilson zu den treibenden Kräften. Doch selber kann er nicht mehr gross mitmischen. Sein Körper macht den Lebensstil nicht mehr mit, er erkrankt an Diabetes, leidet an Arthritis und Depressionen. Dazu leert sich sein Bankkonto. 1996 ist er bankrott, er zieht mit seiner Frau in eine Sozialwohnung, die er so gut wie nie verlässt. Einer seiner Söhne ist ein Heroin-Junkie, und für Geld dreht der eigene Bruder einer Boulevardzeitung die Story an, dass Jocky seine Frau betrogen habe.
«Ich bin in meinem Leben ein- oder zweimal im Stich gelassen worden», sagt Jocky Wilson bei seinem Rücktritt 1996. «Aber ich will nicht, dass jemand mit mir Mitleid hat. Es gibt nur eine Person, die Schuld an meiner Situation hat, und das bin ich selbst.»
Als Reporter Jamie Jackson lange nach dem Abtauchen versucht, mit dem früheren Darts-Weltmeister zu sprechen, wird er an der Haustüre abgewimmelt. «Er will sich mit niemandem unterhalten», richtet ihm seine Gattin freundlich, aber bestimmt aus. Ihr Jocky sei manisch-depressiv, empfange nie Besuch und gehe nie aus dem Haus. «Aber Darts schaut er immer noch. Für ihn gibt es nur das Bett und den Fernseher.»
John Thomas «Jocky» Wilson stirbt am 24. März 2012 im Alter von 62 Jahren.