Aus Tobias Grünenfelder hätte eigentlich gar nie ein Abfahrer werden sollen. Der jüngere Bruder von Jürg Grünenfelder gilt zu Beginn seiner Karriere als grösstes Schweizer Talent im Riesenslalom. Michael von Grünigen sieht in ihm schon seinen Nachfolger. Doch seinen Durchbruch schafft der Elmer im Super-G. 2003 und 2004 fährt er in Garmisch jeweils als Dritter zweimal auf Podest.
In der Abfahrt startet «Grüni» nur, weil die Rennen jeweils am gleichen Ort stattfinden wie die Super-Gs. Zu den Besten gehört er in der schnellsten Disziplin nie. Er gilt als «Trainingsweltmeister», Kumpel Marco Büchel sagt über ihn, dass er kein «Rennhund» sei. In den ersten 19 Abfahrten seiner Karriere kommt er nie über den 17. Platz hinaus.
Doch dann kommt Bormio und Grünenfelder fährt die Abfahrt seines Lebens. Schon im Training deutet der 28-Jährige an, dass er gut drauf ist. Trotz der nicht mehr optimalen Piste belegt er mit Startnummer 46 den 16. Platz.
Im Rennen zeigt «Grüni» mit Startnummer 15, was eigentlich in ihm steckt. Er packt auf der anspruchsvollen Pista Stelvio sein ganzes technisches Können aus und riskiert viel. Bei der letzten Zwischenzeit liegt er 28 Hundertstel vor Leader Fritz Strobl.
Ohne Fehler kommt Grünenfelder zum Zielsprung, doch dort passiert das Missgeschick. Bei der Landung rund hundert Meter vor dem Ziel reisst es ihm die Ski auseinander, der Glarner kann den Sturz nicht verhindern und schlittert hilflos über die Ziellinie.
«Es ist wahnsinnig schnell gegangen. Ich bin gelandet und dann lag ich auch schon am Boden», erzählt Grünenfelder nach dem Rennen. «Der Schreck war gross. Ich wollte so schnell wie möglich über die Ziellinie rutschen.»
Aus dem ersten Schweizer Abfahrtssieg seit Didier Cuche im Januar 2004 in Garmisch wird nichts. Grünenfelder schlittert auf den zweiten Zwischenrang, drei Hundertstel beträgt der Rückstand auf Strobl. Weil er die Ski nicht verliert, entgeht er einer Disqualifikation.
Der Elmer kann sich aber nicht richtig über seine tolle Leistung freuen. «Das Knie schmerzt ein wenig», sagt er im Zielraum. Ich hoffe, dass es sich nur um eine Überdehnung handelt.» Mit einer Schiene am rechten Bein steigt er in den Ambulanzwagen, von wo aus er mit freier Sicht auf die Videowand um seinen Podestplatz zittern muss.
Die grossen Favoriten stehen nämlich noch oben. Bode Miller und Hermann Maier sind chancenlos, sie liegen beide schon bei den Zwischenzeiten klar zurück. Kjetil-André Aamodt fährt an einem Tor vorbei. Nur der Trainingsschnellste Daron Rahlves fährt schliesslich noch schneller als Strobl und Grünenfelder und holt sich seinen 11. Weltcupsieg.
Nur 35 Hundertstel liegt Rahlves im Ziel vor dem Schweizer. Ärgerlich für Grünenfelder: Ohne den Sturz hätte er wohl sein erstes Weltcup-Rennen gewonnen. Bei der letzten Zwischenzeit war er drei Zehntelsekunden schneller als der Amerikaner, der im unteren Streckenabschnitt massiv abbaute.
Doch damit will sich Grünenfelder nicht beschäftigen. Vielmehr ärgert er sich über die Hiobsbotschaft, dass er sich beim Sturz einen Innenbandriss im rechten Knie zugezogen hat. Vier Wochen muss er pausieren, Olympia 2006 in Turin ist nicht in Gefahr.
Als die Schreckensnachricht endlich verdaut ist, kommt auch bei Grünenfelder etwas Freude auf. «Schön, dass es aufs Podest gereicht hat. In der Abfahrt hätte ich das nie erwartet, aber jetzt bin wohl auch ich ein richtiger Abfahrer», so der Glarner.
2013 beendet Grünenfelder seine Karriere. Nicht ohne Weltcupsieg! Im November 2010 triumphiert der «Trainingsweltmeister» beim Super-G von Lake Louise. Fünfmal fährt er in seiner Karriere insgesamt auf ein Weltcup-Podest, eine Medaille bei Grossanlässen bleibt ihm aber verwehrt.