Kürzlich zirkulierte wieder ein altes Bild von Jonas Vingegaard. Es zeigt den Dänen im Vorfeld der Tour de France 2024, angeschlossen an einen Schlauch. Er inhaliert Kohlenstoffmonoxid. Seit Februar dieses Jahres ist das Verfahren verboten, weil es Risiken wie Schwindel oder Herzprobleme verursachen kann.
Es zeigt exemplarisch, wie im Radsport die Grenzen ausgelotet werden. Wie neue Verfahren zur Leistungssteigerung zum Einsatz kommen. Wie die Körper der Fahrer als Versuchsobjekt herhalten.
Tadej Pogacar, Jonas Vingegaard und Remco Evenepoel – im vergangenen Jahr pulverisierten sie während der Tour de France Rekorde aus der EPO-Blütezeit, aufgestellt von Marco Pantani und Lance Armstrong. Ist das sauber?
Fakt ist: Seit zehn Jahren gab es beim weltweit grössten Radrennen keinen Dopingfall mehr. Die Kontrollen? 13'700 Tests weltweit pro Jahr, 600 während der Tour. Und trotzdem kein einziger positiver Test seit 2015. Kann das sein?
Die ARD-Doku «Geheimsache Doping: Im Windschatten» zeigt, wie brüchig dieses Bild ist. Ein früherer Komplize des überführten Arztes Mark S. arbeitet bis heute unbehelligt beim Top-Team Ineos Grenadiers – obwohl seine Rolle im «Aderlass»-Prozess vor Gericht Thema war. Strafverfolgung? Wegen Verjährung eingestellt. Sportrechtlich? Ist wenig passiert. In diesem Fall: Nichts.
Wie leicht Doping auch heute noch möglich ist, zeigte ein Versuch der ARD: Als Scheinfirma getarnt, bestellte man bei einem slowenischen Unternehmen ein Bluttransfusionsgerät, wie es schon zu Zeiten Armstrongs eingesetzt wurde. Kosten: 50'000 Franken.
Blutdoping funktioniert einfach: Eigenblut wird entnommen, die roten Blutkörperchen (Erythrozyten) isoliert und kühl gelagert. In der Zwischenzeit gleicht der Körper den Blutverlust aus, indem er neue Erythrozyten bildet. Kurz vor oder während dem Wettkampf wird das gelagerte Konzentrat wieder ins Blut zurückgeführt. Dadurch erhöht sich die Zahl der roten Blutkörperchen, die den Sauerstoff transportieren. Damit steigt auch die Ausdauerleistungsfähigkeit.
Auch Mark S. operierte mit Blutdoping. In unbeschrifteten Beuteln, bezahlt über dubiose Kanäle, mit teilweise absurden Decknamen wie «Maestro Balthazar», «Lucky Luke» oder «Professor Quack».
In den Chats des Netzwerks taucht auch immer wieder Aicar auf – ein Medikament, das ursprünglich für Krebspatienten entwickelt wurde. Es kann das Energielevel in der Muskulatur stark erhöhen und die Leistung erheblich steigern. Heute gibt es über 160 verwandte Substanzen, doch nur vier stehen explizit auf der Dopingliste. Die Kontrolllücken sind eklatant.
Ein ehemaliger Fahrer sagt anonym: «Zu glauben, dass seit Jahren niemand mehr etwas nimmt, ist ein Witz.» Er selbst sei Zeuge gewesen – und massiv bedroht worden, als er aussagen wollte. «Wer reden will, wird mit dem Tod bedroht», sagt er in der ARD-Dokumentation.
Hinzu kommen Grauzonen. Etwa, wie oben beschrieben, Kohlenmonoxid. Die Methode simuliert Höhentraining. Regelmässiges Inhalieren steigert die Produktion roter Blutkörperchen. Das Verfahren wurde beim Team UAE (Tadej Pogacar), Visma (Jonas Vingegaard) und Israel Premier Tech eingesetzt – offiziell zu Testzwecken, inzwischen verboten.
Schon 2015 schlug Sportwissenschaftler Pierre Sallet Alarm. Während Jahren analysierte der Franzose im Auftrag des Veranstalters der Tour de France, der Amaury Sport Organisation ASO, die Leistungen der Fahrer. Über Bradley Wiggins und Chris Froome sagte er damals: «Das sind Ausserirdische. Was wir erleben, ist weder physiologisch noch wissenschaftlich erklärbar. Alle, die vorher solche Leistungen gezeigt haben, waren in Doping verstrickt.»
Im Radsport erklärt man die Leistungen mit einem Dreiklang der Optimierung: bei Mensch, Maschine und Material.
Fahrer könnten heute bis zu 150 Gramm Kohlenhydrate pro Stunde aufnehmen. Doppelt so viel wie einst angenommen. Filippo Galli, der das Colnago-Fahrrad von Tadej Pogacar mitentwickelt hat, sagt: «Die grossen Entwicklungen übertreffen die Vorteile illegaler Substanzen der Vergangenheit.» Er nennt Aerodynamik, Radhandling, Grip, Komfort, Gewicht. Er ist überzeugt: Der Radsport ist sauber. Wirklich?
Fakt ist: Die Vergangenheit fährt mit. In 14 der 18 WorldTour-Teams arbeiten belastete oder überführte Personen. Nur sieben Teams sind Mitglied der MPCC, der Bewegung für glaubwürdigen Radsport. Die Schwergewichte UAE, Visma und Ineos Grenadiers fehlen.
Der Radsport hat viel unternommen, um die dunkle Vergangenheit hinter sich zu lassen. Fast nirgendwo wird so flächendeckend getestet. Und doch zeigt die ARD-Dokumentation: Der Glaube an einen sauberen Sport bleibt Illusion.
Die Grenze zwischen Optimierung und gezielter Manipulation ist fliessend. Der Dopingverdacht? Er fährt immer mit. Wie die Schläuche, an denen Fahrer wie Jonas Vingegaard hängen. Nur der Inhalt hat sich geändert – vielleicht. (riz/aargauerzeitung)