«Alles andere ist nebensächlich»: Wie seine Kollegen das Drama um Gino Mäder verarbeiten
Stefan Bissegger ist noch ein junger Mann, 24 Jahre alt erst. Einen Menschen verlieren, der einem nahe ist und lieb, der einen begleitet hat, über viele Jahre: Das hat man als so junger Mann meist noch nicht oft erlebt. Nur der Grossvater von Bissegger ist vor ein paar Jahren gegangen. Sonst sind alle noch da.
Aber jetzt hat Bissegger auch Gino Mäder verloren, er war ein junger Mann wie er selbst, 26 nur. Viele Jahre haben sich die beiden schon gekannt, waren zusammen junge Radtalente und wurden etablierte Rennfahrer. Man traf sich an Rennen und Rundfahrten, man traf sich als Sportsoldaten im Militär.
Am letzten Freitag ist Mäder gestorben, den schweren Verletzungen erlegen, die er am Albulapass erlitten hatte. Wie verarbeitet Bissegger, wie verarbeitet der Schweizer Radsport das Drama?
Bissegger hat die Rückkehr aufs Rad geholfen
Am Samstag, dem Tag nach dem Tod von Mäder, gab es Fahrer, die sich von der Tour de Suisse zurückzogen, viele von ihnen waren Schweizer. Stefan Bissegger gehörte nicht dazu. Er brach zur Etappe auf, ganz hinten im Feld hielt er sich auf, alles andere wäre zu gefährlich gewesen, sagt er, weil die Beine «zu» waren und der Kopf nicht bei der Sache.
Bissegger fuhr dann auch das Zeitfahren am Sonntag, er belegte den vierten Platz, und jetzt, mit ein wenig Abstand, sagt er: «Es war schwierig, wieder aufs Velo zu steigen, aber es hat mir geholfen». Der Thurgauer schaut in diesen Tagen, dass er immer etwas zu tun hat, aber natürlich landen die Gedanken immer wieder bei Gino Mäder.
Und natürlich wird etwas bleiben. «Gino wird immer mitfahren», so sagt Bissegger das, doch was das wirklich bedeutet, das weiss er noch nicht. Er weiss nur, dass jetzt etwas anders ist. Zum Radsport gehört das Risiko dazu, das war ihm immer bewusst, aber der Unfall von Mäder hat es ihm mit einer Wucht vor Augen geführt, die er nicht einfach so abstreifen kann.
Bissegger sagt, er habe am Wochenende gespürt, dass er nicht mehr so viel Risiko eingehen könne wie früher. «Vorher war ich befreiter unterwegs», so formuliert er das, und erzählt von der Frau und dem jungen Sohn, sieben Wochen alt erst.
Jeder geht anders mit der Trauer um
Trauerverarbeitung, sagt der Sportpsychologe Philippe Müller, sei etwas sehr Individuelles. Generell gelte: Zuerst überwiegt das Emotionale, der Schock. Und später kommen die Gedanken. Müller arbeitet mit Verbänden und Athleten aus verschiedenen Sportarten. Er sagt, es sei wichtig, dass die Sportler einen Unfall wie jenen von Mäder aufarbeiten. Aber eben: «Jeder braucht etwas anderes, jeder reagiert anders, und folglich muss jeder auch anders damit umgehen», sagt Müller. Der eine Fahrer könne sofort weitermachen, der andere brauche eine Pause.
Wichtig sei es, dass jeder Athlet Zugang zu psychologischer Betreuung habe, sagt Müller. Und er warnt davor, dass es durchaus gefährlich sein könne, etwas nicht zu verarbeiten. Eine Spätfolge könnte etwa ein Vermeidungsverhalten sein – dass man sich gewissen Situationen, gar nicht mehr aussetze oder den Fokus verliere.
In Stefan Bisseggers Team gibt es einen Psychologen, den die Athleten konsultieren können. Der Thurgauer hat das nicht gemacht, weil er gespürt hat, dass er es nicht braucht. Ihm hat das Weiterfahren geholfen. Er sagt: «Es gibt kein richtig und kein falsch. Man kann nur auf die eigenen Gefühle hören und auf sie vertrauen.»
Stefan Küng macht das Velofahren gerade keinen Spass
Auf seine Gefühle gehört: Das hat am Samstag auch Stefan Küng. Und ist nicht mehr in den Sattel gestiegen, weil er gemerkt hat, dass es nicht geht. Die Etappe in der Ostschweiz, wo Familie und Freunde an der Strasse stehen. Im Kopf der Unfall von Gino Mäder. «Ich hätte das emotional nicht hingekriegt», sagt Küng.
Am Samstag kehrte er heim zu seiner Familie. Er denkt an Mäders Angehörige, daran, dass ihr Gino «jetzt einfach weg ist». Und er ertappt sich beim Gedanken, dass es auch ihn hätte treffen können, weil für ihn dieser Unfall ein Schicksalsschlag ist, und nichts anderes. Dass jetzt alle nach Erklärungen suchen, ärgert ihn. Die Kritik an der Streckenführung auch. «Gino kommt nicht mehr zurück. Alles andere ist nebensächlich», sagt er. Und fragt rhetorisch, ob man denn immer alles verstehen müsse.
Am Sonntag setzt sich Küng wieder aufs Velo, auch am Montag und am Dienstag. Training, schliesslich steht bald die Tour de France an. Aber die Motivation, sagt Küng, sei nicht wahnsinnig gross. Das Velofahren macht ihm gerade keinen Spass.
Küng denkt, dass es noch eine Weile dauert, bis alles wieder wie vorher ist. Aber er klingt so, als glaube er daran, dass es das wieder werden kann. Er würde sofort wieder Rennprofi werden, auch nach allem, was passiert sei, so hart das vielleicht klinge. «Velofahren ist unsere Leidenschaft, es ist für uns das volle Leben, es macht uns glücklich, und das war auch bei Gino so», sagt er.
Und dazu gehört halt das Tempo, das Suchen des Limits, der roten Linie. «Ich werde auch künftig auf einer Abfahrt nicht denken: Ou, hier ist es aber steil», sagt Küng. Zumindest kann er sich das nicht vorstellen.
Warum?
Bissegger ist weitergefahren, Küng nicht. Beide denken an Gino Mäder, und natürlich schwirren viele Fragen durch den Kopf. Das ist auch bei Thomas Peter so. Peter ist Geschäftsführer des Radsportverbands Swiss Cycling. Und von den vielen Fragen ist diese eine die drängendste: Warum ist das passiert?
Warum verunfallt ein Rennfahrer, der als hervorragender Techniker und Abfahrer gilt? Warum stürzt er an einem Pass, den er so gut kennt, dass er genau weiss, wo er bremsen muss und wo nicht? Warum war von den vielen hundert Abfahrten, die in den letzten Jahren allein im Rahmen der Tour de Suisse dort stattfanden, diese tödlich?
Peter weiss, dass es auf diese Fragen vielleicht nie eine Antwort geben wird. Die Behörden ermitteln zwar, doch ob sie die Unfallursache klären können, ist unklar. Ein Stück weit stellt sich Peter schon darauf ein, dass dieser Unfall «ein Rätsel» bleiben könnte. Es beschäftigt ihn zwar, dass niemand genau weiss, was am Albula passiert ist. Doch irgendwie tröstet es ihn auch, dass es keine Fernsehbilder gibt und keine Handyvideos. «Es gab in diesem ganzen Drama so etwas wie Intimität und Integrität für Gino», sagt Peter. (aargauerzeitung.ch)
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