Für einmal gewinnt Tadej Pogacar nicht. Doch auch in der 17. Etappe des Giro d'Italia am Mittwoch überzeugt der Slowene, setzt sich in der Schlussphase vom Feld ab und holt noch den zweiten Rang hinter dem jungen Deutschen Georg Steinhauser. Damit baut der grosse Dominator, der schon fünf Etappen gewonnen hat, seine Führung in der Gesamtwertung weiter aus. Nach 17 Etappen beträgt Pogacars Vorsprung auf den Zweiten, Daniel Martinez, unglaubliche 7 Minuten und 42 Sekunden.
So dominant Pogacar ist: Auch der Slowene kommt nicht an die Zahlen des Zürchers Carlo Clerici heran. Beim Giro d'Italia 1954 war sein Vorsprung noch grösser als jener von Pogacar heute. Nach der 17. Etappe führte Clerici den Giro mit 14 Minuten und 18 Sekunden an. Der 24-jährige Zürcher schaffte mit seinem Sieg die vielleicht bis heute grösste Sensation in der Geschichte der italienischen Landesrundfahrt.
Bis in die 3. Klasse lebt Clerici in Italien bei seiner Grossmutter, dann wächst der Sohn einer Schweizerin und eines Italieners im Zürcher Kreis 4 auf. «Mit dem Velo habe ich in der Freizeit Blumen ausgeliefert», erzählt er Jahre später in der «Schweizer Illustrierten». «Dann begann ich zu trainieren und wurde Amateurfahrer.»
Im Windschatten der beiden grossen Schweizer jener Zeit, Ferdy Kübler und Hugo Koblet, radelt er in Richtung Rad-Elite. Als er auf der internationalen Bühne ankommt, hat er immer noch nur den italienischen Pass. «Ich war Zürcher, aber eben kein Schweizer.» Dass er aber beim Triumph Schweizer ist, hat viel mit der Austragung im Jahr zuvor und mit einer aussergewöhnlichen Freundschaft zu tun.
Beim Giro 1953 ist Koblet, der 1950 als erster Ausländer die italienische Landesrundfahrt gewonnen hat, einer der Topfavoriten. Doch seine Helfer können ihren Leader im Kampf mit dem italienischen Star Fausto Coppi nur ungenügend unterstützen. Clerici, der mit Koblet aufgewachsen und ebenfalls im Zürcher Radfahrer-Verein gross geworden ist, fährt zu jenem Zeitpunkt zwar für ein italienisches Team, doch in einem entscheidenden Moment wartet er auf seinen Jugendfreund. Weil die beiden nicht für das gleiche Team fahren, wird Clerici daraufhin ausgeschlossen.
Auch wegen dieser Episode beantragt er den Schweizer Pass und erhält diesen im April 1954. Koblet holt seinen Freund ins Nationalteam, beim Giro fährt Clerici zum ersten Mal mit dem Schweizer Kreuz auf der Brust. In der 6. Etappe zwischen Neapel und L'Aquila schlägt seine Stunde. Favorit Koblet gibt seinem Helfer freie Fahrt. Gemeinsam mit Nino Assirelli zieht Clerici davon. Die Italiener um die Stars Coppi und Bartali reagieren nicht. Das Duo zieht weg, Koblet bremst die Konkurrenz.
Als das Feld geschlagene 37 Minuten nach Etappensieger Clerici im Ziel eintrifft, ist der abtrünnige ehemalige Landsmann längst in die Maglia Rosa gekleidet. Vorübergehend, glauben die Tifosi. Doch auch in den Bergen erweist sich Clerici als zäher als gedacht. Und Koblet revanchiert sich bei seinem Freund. Der einstige Mitfavorit stellt sich in den Dienst der Maglia Rosa und wird zum Edelhelfer. Als Clerici in Mailand als Sieger einfährt, buht das italienische Publikum. Der Abtrünnige holt den Titel. Clerici siegt in der Gesamtwertung 24 Minuten vor seinem Freund Koblet.
Für Clerici bleibt der Giro-Sieg 1954 sein grösster Erfolg. Zwei Jahre später stürzt er bei der Tour de France schwer. Er bricht das Becken und es treten Lähmungserscheinungen im rechten Bein auf. Daraufhin tritt er zurück und wird Handelsreisender für Schnaps und Zigaretten. Clerici beginnt zu rauchen und setzt sich 25 Jahre lang nicht mehr auf ein Velo.
Erst als er über 80 Kilogramm schwer ist, steigt er wieder aufs Velo. Einige Jahre vor seinem Tod im Jahr 2007 legt er noch 5000 Kilometer jährlich zurück. Und bis zuletzt fiebert Carlo Clerici mit, wenn der Giro d'Italia am Fernseher läuft: «Ich lasse mir keine Etappe entgehen. Da fiebere, leide und triumphiere ich jeden Nachmittag mit.» Dann hat er sich auch immer an seinen unglaublichen Sieg aus dem Jahr 1954 zurückerinnert.