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Tour de France: Kokain und Pillen – 1924 fuhren sie «mit Dynamit»

22-6-24, Montdidier, [passage du] Tour de France [cyclisme]
Fahrer auf der 1. Etappe bei der Durchfahrt von Montdidier.Bild: Agence Rol/Bibliothéque nationale de France

Kokain und Pillen – vor 100 Jahren fuhren sie an der Tour de France «mit Dynamit»

Die Tour de France 1924 nimmt bei Radsport-Liebhabern einen besonderen Platz ein. Der Grund ist ein schmales Büchlein, das die Reportagen von Albert Londres zusammenfasst: «Die Strafgefangenen der Landstrasse». Im Mittelpunkt steht die vielleicht erste Dopingbeichte der Sportgeschichte.
11.07.2024, 19:57
Ralf Meile
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Die Tour de France gilt als das härteste Radrennen der Welt. Ein drei Wochen dauernder Wettstreit über hohe und steile Pässe, durch Wind und Regen, unter der sengenden Sonne.

Wenigstens sind die Strassen heute fast überall, wo die Tour de France rollt, in einem einwandfreien Zustand. Kein Vergleich zu den Verhältnissen vor exakt hundert Jahren. 1924 kämpfen die Fahrer nicht nur mit den Gegnern, sondern auch mit der Bodenbeschaffenheit. Platte Reifen sind an der Tagesordnung.

Henri Pelissier (Frankreich, Mitte) schiebt sein Rad im Anstieg zum Col du Tourmalet - PUBLICATIONxNOTxINxITAxFRA
Henri Pelissier schiebt sein Rad über den Schotterweg des Col du Tourmalet.Bild: www.imago-images.de

Zwei Brüder packen aus

Albert Londres, ein Auslands- und Kriegsreporter, begleitete jenes Rennen vor exakt hundert Jahren für die Tageszeitung «Le Petit Parisien». Der 39-Jährige war es, der die berühmten Pélissier-Brüder am Tisch des Bahnhof-Cafés von Coutances schildern liess, welche Substanzen sie alle einnehmen, um die Strapazen einer Tour de France auszuhalten.

Au Café de la Gare, à Coutances (Manche), Albert Londres (portant chapeau clair, à gauche) interviewe les frères Pélissier (Henri à gauche et Francis à droite) et Maurice Ville après leur abandon, le  ...
Albert Londres (vorne links mit Hut) mit Henri (links) und Francis Pélissier (rechts) sowie Maurice Ville (Mitte).Bild: but et club/bibliothéque nationale de france

Henri und Francis Pélissier waren zwei der grössten Sportstars der damaligen Zeit. Henri trat 1924 als Titelverteidiger zur Tour de France an, hatte auch Siege bei Paris–Roubaix, Mailand–Sanremo oder an der Lombardei-Rundfahrt im Palmarès. Bruder Francis war französischer Meister, Tour-Etappensieger und Triumphator des über 600 Kilometer langen Bordeaux–Paris.

«Wir sind keine Hunde!»

Am 26. Juni 1924 sind die Gebrüder Pélissier mit dem Radsport am Ende. Sie sitzen mit einer Tasse heisser Schokolade vor sich da und bellen Londres, der von der Aufgabe Wind bekommen und sich eilends zu ihnen aufgemacht hat, an: «Wir sind keine Hunde!»

Auslöser ihres Streits mit Tour-Gründer und -Direktor Henri Desgrange war, dass dieser den Fahrern verbot, auch bei Kälte mehr als ein Trikot zu tragen und dieses im Verlauf des Tages auszuziehen. Henri Pélissier reicht es, er steigt vor der 3. Etappe aus – und schwingt sich doch noch einmal in den Sattel. «Francis war schon ins Rennen gegangen, ich habe das Peloton eingeholt uns sagte: ‹Komm Francis! Wir packen unsere Sachen.›» Der ist dabei, plagen ihn doch ohnehin Magenbeschwerden. Und unterwegs steigt ein dritter Verbündeter aus, Maurice Ville. «Mich haben sie auf der Landstrasse in resignierter Verzweiflung aufgefunden. Ich habe die zerschlissenen Kniegelenke eines Toten», klagt Ville.

Versailles, 24/8/24, championnat [des] 100 km [contre-la-montre, de g. à d.] Henri, Charles, Francis Pélissier
Die Brüder Henri, Charles und Francis Pélissier (von links) inmitten von Fans.Bild: Agence Rol/Bibliothéque nationale de France

Beutel voller Dynamit

Einmal in Rage geredet, packen die drei Fahrer aus. Im wahrsten Sinne des Wortes. «Sie haben keine Vorstellung davon, was die Tour de France ist. Wir leiden vom ersten bis zum letzten Tag. Wollen Sie mal sehen, womit wir fahren?»

Schon hat Henri Pélissier eine Ampulle aus seinem Beutel gefischt. «Das ist Kokain für die Augen, und dies hier ist Chloroform für das Zahnfleisch.» Londres wird die vielleicht erste Dopingbeichte der Geschichte diktiert, wobei dessen Gebrauch damals völlig legal ist.

Alle drei Fahrer legen Schachteln auf den Tisch. Francis Pélissier fasst es treffend zusammen: «Wir fahren mit Dynamit.»

Antonin Magne Frankreich im Anstieg zum Col d Aubisque - PUBLICATIONxNOTxINxITAxFRA
Antonin Magne quält sich einige Jahre nach der Tour 1924 den Col d'Aubisque hoch.Bild: www.imago-images.de

Die Fahrer sind überzeugt, dass sie die Schinderei ohne Pillen und Pulver nicht überlebten. «Wir tun das, was wir keinem Maulesel antun würden. Wir sind keine Faulenzer, aber man lege uns in Gottes Namen keine Steine in Weg. Qualen akzeptieren wir, aber keine Schikanen! Mein Name ist Pélissier und nicht Hasso oder Rex!»

Selbst muss der Mann sein

Das Reglement ist tatsächlich ein Faktor, der die ohnehin harte Aufgabe zusätzlich erschwert. So dürfen die Fahrer auf den 5425 Kilometern durch Frankreich keinerlei Hilfe annehmen. Selbst wenn sie anhalten und an einem Brunnen ihre Flaschen füllen, müssen sie selber pumpen, damit Wasser aus dem Rohr fliesst. «Es kommt noch der Tag, an dem sie uns Blei in die Taschen stopfen, weil sie behaupten werden, dass Gott den Menschen zu leicht geschaffen hat.»

Albert Londres 1923
Albert Londres im Jahr 1923.Bild: unbekannt/wikipedia

Reporter Londres lässt seine Leser auch andernorts mit den Athleten leiden. «Die Fahrer setzen ihre Fliegerbrillen auf, dann wieder ab, sie wissen nicht, wie ihre Augen am wenigsten schmerzen», heisst es etwa. Ganz im Norden Frankreichs, an der Grenze zu Belgien, fühlt sich der Chronist an den damals noch nicht lange zurückliegenden Ersten Weltkrieg erinnert. «Wir waren nicht im Krieg, sondern bei einem Rennen», notiert er. «Doch nach den Gesichtern der Hauptakteure zu urteilen, war kein grosser Unterschied auszumachen.»

«Wenn ich einen Revolver gehabt hätte, wäre schon einer tot»

Wer glaubt, dass die (zu) vielen Begleitautos und -motorräder auf der Strecke ein Problem der heutigen Zeit sind, der irrt. «Wir verursachen durch unsere Fahrmanöver Stürze, so mancher Fahrer landet im Geröll, mitunter macht er Bekanntschaft mit einem Baum», gesteht Londres. «Wenn sie sich mit Tempo 60 halsbrecherisch bergab stürzen, tauchen wir unvermittelt in einer Kurve auf und blockieren die Strecke. (…) Erst heute schrie ein Fahrer unablässig: ‹Banditen! Banditen! Banditen!› Er war dem Tode nur knapp entkommen.»

Die Fahrer würden wohl zurückgeben, wenn sie denn könnten. Der Franzose Romain Bellenger, 1924 zweifacher Etappensieger, wird martialisch zitiert: «Wir müssen aggressiver werden. Wenn ich einen Revolver gehabt hätte, wäre schon einer tot.»

Girmay zum Dritten
Der Eritreer Biniam Girmay feierte am Donnerstag schon seinen dritten Etappensieg dieser Tour. Er gewann in Villeneuve-sur-Lot nach 204 km im Massensprint. Im Gesamtklassement führt weiter Tadej Pogacar.

Sieger mit windschnittiger Nase

Besagter Bellenger ist auch einer jener Fahrer, die unten herum nackt in die Pedale treten, nachdem der Regen das Sitzpolster der Rennhose durchweicht und zerstört hat. «Dass ihr uns bloss abschirmt, sobald wir durch Lille kommen», ruft der Belgier Hector Tiberghien den Fahrern mit bedecktem Unterleib zu, «die jungen Mädchen sollen nicht schlecht über uns denken!»

Parc des Princes [vélodrome], 20/7/24, arrivée du Tour de France [gagné par] Bottecchia
Ottavio Bottecchia fährt als Gesamtsieger im Parc des Princes ein.Bild: Agence Rol/Bibliothéque nationale de France

Die Tour de France 1924 gewinnt zum ersten Mal ein Italiener. Ottavio Bottecchia, ein ehemaliger Maurer aus dem Friaul mit gemäss Reporter Londres besonders windschnittiger Nase, ist der Konkurrenz überlegen. Das Maillot Jaune gibt Bottecchia nach seinem Sieg in der 1. Etappe nicht mehr ab, in Paris triumphiert er mit 35 Minuten Vorsprung.

Beide Pélissier-Brüder kehren nach ihrer wütenden Aufgabe in den Jahren darauf zur Tour de France zurück. Francis gewinnt noch einmal eine Etappe, und ihr jüngerer Bruder Charles Pélissier kann insgesamt gleich 16 Etappen für sich entscheiden. Henri Pélissier fährt keine grossen Erfolge mehr ein. Sein Leben endet im Alter von 46 Jahren tragisch: Seine Partnerin greift im Streit zu einem Revolver und feuert tödliche Schüsse auf ihn ab.

Die deutschen Zitate sind aus dem Buch «Die Strafgefangenen der Landstrasse» des auf Radsport spezialisierten Verlags Covadonga.
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14 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Wolf Rabe
11.07.2024 20:28registriert Februar 2015
Ist doch heute immer noch so.

Ein Freund von mir wollte den Weg gehen, und war schon recht gut unterwegs ...

... aber irgendwann kam dieser Moment, wo ihm gesagt wurde "Du bist super, wir nehmen Dich ins Kader, aber wenn Du da jetzt weiterkommen willst, musst Du diese Medikamentensammlung hier nehmen und darf ich Dir Deine drei neuen Ärzte vorstellen".

Ist immer noch genau so, nur auf höherem Level.

Man sollte vielleicht einfach die ganze Sport-Welt in zwei Varianten fahren: "Normal" (alles verboten) und "Du kannst soviel dopen wie Du willst"-Mode 😂
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