Olympia ist 1912 noch kein Kassenschlager. Das Stadion in Stockholm ist meist gähnend leer. Bis am letzten Tag, dem 14. Juli 1912 um 13.45 Uhr. Dann steht der Marathon auf dem Programm. Im laufsportverrückten Schweden DAS Ereignis. 22'000 füllen die Arena, Tausende stehen an der Strecke.
Allerdings ist die Freude bei den Organisatoren trotzdem getrübt. Grund ist das Wetter: Bis zu 32 Grad werden gemessen, eine völlig unerwartete Hitze. Schon vier Jahre zuvor brachen beim Marathon in London bei «nur» 25 Grad viele Läufer zusammen.
Zwei Jahre steckten die Schweden in die Vorbereitung des Events. Am Tag des Rennens werden grosse Strassenabschnitte noch mit Wasser bespritzt, um die Hitze und den Staub zu reduzieren; neben den normalen Verpflegungsposten sollen die Läufer auch alle 500 Meter die Möglichkeit haben, etwas zu trinken.
98 Läufer hatten sich gemeldet, 69 starten auch wirklich. Die meisten von ihnen schützen den Kopf mit einer Mütze und einem Tuch vor der Sonne. Nur 35 Läufer werden das Rennen beenden. Ganz schlimm ergeht es dem Portugiesen Francisco Lazaro, der bis heute der einzige Marathonläufer bleibt, der bei Olympischen Spielen verstarb.
Auch Shiso Kanaguri (teilweise auch Shizo Kanakuri) wird wenige Tage nach dem Rennen für tot erklärt. Der Japaner – der erste Olympiateilnehmer seines Landes – geht während dem Rennen verloren und wird von der Polizei nicht mehr gefunden.
Was war geschehen? Kanaguri wird in seiner Heimat als «Vater des Marathons» gefeiert. Studienkollegen sammeln Geld, damit er nach Schweden kann. 18 beschwerliche Tage dauert die Reise. Erst mit dem Schiff von Tokio nach Wladiwostok, dann mit der transsibirischen Eisenbahn quer durch Russland und über Finnland nach Stockholm. Der 23-Jährige braucht danach fünf Tage, um sich zu erholen und wieder trainieren zu können. Zudem macht ihm das ungewohnte Essen zu schaffen.
Trotzdem startet der Asiate zum Marathon. Die Hitze zwingt ihn aber in die Knie. Bei Kilometer 30 im Vorort Sollentuna wird er von Zuschauern, die im Garten eine kleine Party feiern, zu einer Erfrischung eingeladen. Kanaguri – der nahe am Zusammenbruch steht – stillt seinen Durst und will sich etwas ausruhen. Er fällt sofort in einen tiefen Schlaf. So die offizielle Version. Als er aufwacht, grüsst bereits ein neuer Tag. Die olympischen Spiele sind bereits zu Ende gegangen, die Polizei sucht fieberhaft den vermissten Läufer. Doch dieser schämt sich dermassen, dass er – ohne sich zu melden – zurück nach Japan reist.
In Schweden wird Shiso Kanaguri nach erfolgloser Suche für tot erklärt. Doch eigentlich geht es ihm wieder wunderbar. Er gewinnt dreimal in Serie die japanische Meisterschaft, verpasst die Olympischen Spiele 1916 wegen des 1. Weltkriegs, läuft 1920 aber auf Rang 16 und startet auch 1924 am olympischen Marathon (musste aufgeben). Kurz davor stellte Kanaguri gar mit 2:36:10 einen neuen Asienrekord auf.
In Schweden wird dies alles nie registriert. Erst in den 1960ern findet ein Journalist heraus, dass Kanaguri in Skandinavien als tot gilt. Ein TV-Sender sucht den mittlerweile 75-jährigen Sportler und lädt ihn ein, um den Marathon zu beenden.
Kanaguri, mittlerweile Universitätsprofessor im Ruhestand, nimmt das Angebot an. Er reist nach Europa und setzt seinen Lauf genau an jener Stelle fort, an welcher er 54 Jahre zuvor nicht ganz freiwillig aufgab. Zwölf Kilometer später beendet er den langsamsten Marathon der Geschichte nach 54 Jahren, 8 Monaten, 6 Tagen, 8 Stunden, 32 Minuten und 20,3 Sekunden. Das entspricht einer Geschwindigkeit 8,4 Zentimeter pro Stunde. Kanaguri sagt glücklich: «Es war ein weiter Weg. Unterwegs habe ich geheiratet, sechs Kinder gezeugt und zehn Enkel geschenkt bekommen.»
Übrigens: Zum 100-jährigen Jubiläum des Rennens von 1912 lief Urenkel Yoshiaki Kurado den Stockholm-Marathon. Er stoppte genau bei 30 Kilometern. Von den Nachkommen der schwedischen Familie wurde er im Garten zu einem Drink eingeladen.