Wer die Diagnose «Multiple Sklerose» erhält, lebt ab sofort mit einer grossen Unsicherheit. Denn die chronisch fortschreitende Krankheit, die nach und nach das zentrale Nervensystem zerstört, kann sich ganz unterschiedlich entwickeln. Wie ein Leben mit dieser Ungewissheit aussieht, erzählt Claudia Steiger, eine junge Frau, die vor sechs Jahren die Diagnose bekam.
«Die ersten Symptome hatte ich am 16. August 2010. Da bin ich morgens aufgewacht und habe meinen ganzen Oberkörper nicht mehr gespürt. Im ersten Moment habe ich mir nicht gross was dabei gedacht, weil ich am Abend vorher joggen war und dachte, dass ich mir irgendwas eingeklemmt habe.
Mein Hausarzt hat mir daraufhin Tabletten gegen Muskelverspannungen verschrieben, die habe ich aber dermassen schlecht vertragen, dass ich ein paar Tage später im Notfall vom Spital gelandet bin. Dort bin ich an einen guten Arzt geraten, der gleich eine neurologische Untersuchung gemacht und mir dann fadengerade gesagt hat: ‹Richtiges Geschlecht, richtiges Alter, wahrscheinlich MS›.
Das war damals mein erster Schub. Nach etwa vier Wochen sind die Symptome wieder verschwunden. Ausser in den Händen, die kribbeln manchmal heute noch, zum Beispiel wenn ich Sport mache. Oder wenn es wie jetzt so nass-kalt ist, dann tun sie mir auch weh – da kann's schon mal sein, dass ich so eine kleine Flasche hier einfach nicht öffnen kann.
In den ersten zwei Jahren hatte ich eine sehr aktive MS. Obwohl ich ein Interferon nahm, das ich mir einmal pro Woche selber spritze, hatte ich in dieser Zeit drei Schübe. Zweimal waren meine Beine betroffen. Das kannst du dir vorstellen, wie wenn sie eingeschlafen sind und jetzt gerade wieder aufwachen. Ausserdem waren meine Beine schwer wie Blei und ich litt unter Gefühlsstörungen. Einen dieser Schübe hatte ich kurz vor meiner Hochzeit. Dank Kortison konnte ich trotz MS einen der schönsten Tage meines Lebens geniessen.
Was während dieser Schübe besonders schlimm ist, ist die Fatigue – das ist eine plötzlich erscheinende Müdigkeit. Das fühlt sich an, als hättest du Wolken im Kopf, du nimmst alles nur noch ganz gedämpft wahr. Aber auch die kognitiven Fähigkeiten sind betroffen: Du kannst dich nicht mehr richtig konzentrieren und verlierst beim Arbeiten den Faden. Diese Fatigue begleitet mich heute eigentlich immer, auch wenn ich gerade keinen Schub habe.
Bereits nach kurzer Zeit wurde klar, dass ich meinen aktuellen Job so nicht mehr machen kann, weshalb ich einen Teil meiner Arbeit abgegeben und das Arbeitspensum auf 80 Prozent reduziert habe – denn Stress ist der absolute Feind der MS: Was früher eine Herausforderung war, ist jetzt eine Belastung.
Im Juni 2012 hatte ich meinen letzten Schub unter Interferon. Danach wurde entschieden, dass ich ein neues Medikament bekomme: Tysabri wird einmal im Monat intravenös verabreicht. Daraufhin war ich vier Jahre schubfrei! Doch im Januar 2016 musste ich auf ein anderes Medikament ausweichen – seitdem nehme ich täglich eine Tablette.
Ob es an dem neuen Medikament oder an etwas anderem liegt, ist nicht klar, aber im Juli 2016 tauchten plötzlich neue Symptome auf: Schwindel, Gleichgewichtsstörungen, Wahrnehmungsstörungen mit den Augen und wieder eine extreme Fatigue. Obwohl auf dem MRI keine neuen Läsionen oder aktiven Herde zu sehen waren, glaube ich, dass ich einen neuen Schub hatte. Die Sofortmassnahmen lauteten damals: Arbeit weiter reduzieren, Stress vermeiden, mehr Ruhe gönnen.
Dass ich irgendwann mal ein Pflegefall werde, davor habe ich keine Angst. Weil ich die schubförmige MS habe. Während der Schübe geht's einem wirklich nicht gut. Im Sommer bin ich eine Zeit lang am Stock gegangen. Nachher erholt man sich dann wieder, auch wenn gewisse Symptome in geringer Form bleiben können. Ich liege zum Beispiel manchmal im Bett und habe das Gefühl, mein Bein brennt wie Feuer. Aber das ist eben so. Damit habe ich mich abgefunden. Darum sage ich auch immer: ‹Mir geht es gut›.
Grundsätzlich wirbelt MS dein ganzes Leben durcheinander, aber dann lernst du damit umzugehen. Ich kann jetzt nicht mehr 100 Prozent arbeiten, aus Sicherheitsgründen fahre ich kein Auto mehr. Ich habe aber beispielsweise auch gelernt, das Leben zu entschleunigen. Einfach mal eine Stunde im Bett zu liegen, nichts zu tun und das zu geniessen.
Ausserdem wird man dankbarer. Ich war schon immer ein Mensch, der an einem Schmetterling oder einem schönen Sonnenuntergang wahnsinnig viel Freude haben konnte – das ist jetzt definitiv noch schlimmer geworden. Manchmal bin ich so überwältigt von all dem Schönen, das uns die Welt gibt, dass ich heulen könnte.
Wenn man das Positive der Krankheit sehen will, kann man sagen: Ich habe jetzt viel mehr Zeit für mich – und dadurch auch für Freunde und Familie. Und diese Zeit nutze ich deutlich intensiver. Ich sehe die Kinder von meinen Kolleginnen wirklich aufwachsen und nicht einfach nur alle ein, zwei Jahre mal. Man muss wirklich das Positive sehen – aber es dauert seine Zeit, bis einem das gelingt.
Trotzdem habe ich manchmal Existenzängste. Dann denke ich mir: ‹Was wäre, wenn mich mein Mann jetzt verlassen würde?› Denn ganz ehrlich: Mit dem Geld, was ich im Job verdiene und von der IV bekomme, käme ich nicht weit. Dann müsste ich wahrscheinlich in eine WG ziehen. Und das ist etwas, das stark an der Psyche und am Ego kratzt: Wenn man sich eingestehen muss, dass man nicht mehr für sich selbst sorgen kann.
Ich habe vorher in meinem absoluten Traumjob gearbeitet, heute bin ich zwar noch in derselben Firma, erledige aber andere Aufgaben. Und diese Veränderung zu akzeptieren, ist wirklich ein Prozess. Es ist schwer, sich solche Eingeständnisse zu machen. Auch als nach zwei Jahren endlich die Bestätigung von der IV kam, war mein Mann sehr erleichtert und hat das von Anfang an sehr positiv betrachtet. Ich selbst war zwei Wochen lang total allergisch auf dieses Thema. Weil dann hast du es schriftlich, dass du wirklich nicht mehr fähig bist, 100 Prozent zu arbeiten.
Was mir aber eine Menge Kraft und Mut gibt, ist der Sport und die MS-Laufgruppe, bei der ich dabei bin. Denn da machen Leute mit, die bis heute einen ganzen Marathon schaffen. Ich renne plus/minus 5,5 Kilometer am Stück, dann spielen meine Beine und Füsse verrückt. Aber auch vor der MS waren acht Kilometer mein Maximum. Ich gehöre zu den Kurzläufern im Team – trotzdem muss ich mich nicht als Versagerin fühlen. Denn wir haben ja alle dasselbe Problem, einfach auf unterschiedlichem Niveau.
Und deshalb haben wir uns für den Silvesterlauf 2015 was ganz Besonderes ausgedacht: Dort sind zwei Betroffene im Rollstuhl und einer im Elektrowagen mitgekommen und die Idee war, dass wir am Ende alle zusammen ins Ziel laufen. Also sind wir 20 Meter davor stehengeblieben, haben den Rollstuhlfahrern aufgeholfen, sie gestützt und sind so alle zusammen über die Ziellinie marschiert. Das ist emotional so ein geiler Moment gewesen, als wir dort alle zusammen mit dem gleichen Schicksal ins Ziel gelaufen sind – das war einfach nur der Hammer.»
Toller Bericht!
Wünsche dir Claudia alles gute auf deinem Weg. Never give up!!!