Der «Economist» gilt als weltweit führendes Wirtschaftsmagazin. Walter Bagehot gründete es 1843, um damit gegen die «corn laws» anzukämpfen, protektionistische Gesetze, die den Import von billigem Getreide auf die britische Insel verhindern sollten.
Dieser liberalen Tradition ist das Blatt bis heute treu geblieben. In der jüngsten Ausgabe ist unter dem Titel «The food miracle» eine wahre Eulogie auf den freien Handel mit Lebensmitteln zu lesen. Konkret heisst es:
Wer die Werbung unserer Grossverteiler sieht, erhält den Eindruck, dass unsere Nahrung vom Bauern um die Ecke produziert wird. «Von der Region für die Region», posaunt etwa die Migros stolz heraus. Die Realität ist leider eine andere. Nochmals der «Economist»:
Riesige Agrarkonzerne wie ADM, Bunge and Cargill, Louis Dreyfus und Olam International kontrollieren die globalen Versorgungsketten zusammen mit Reedereien wie Maersk. Das Resultat bringt der «Economist» wie folgt auf den Punkt: «Getreide aus der Ukraine wird in der Türkei gemahlen und endet als chinesische Nudeln.»
Für den «Economist» ist diese globale Versorgungskette alternativlos. Okay, die Monopolisierung mag in einzelnen Bereichen zu weit fortgeschritten sein. Doch grundsätzlich haben wir wegen dieser ausgeklügelten Maschinerie trotz Coronakrise genügend Essen auf dem Tisch. Deshalb darf diese Versorgungskette auf keinen Fall durch staatliche Eingriffe gestört werden, gerade in Krisenzeiten nicht. Nochmals der «Economist»:
So wie der «Economist» argumentiert die überwiegende Mehrheit der Ökonomen. Freihandel mag einzelne bedauernswerte Opfer erfordern – so die These des komparativen Vorteils, des Heiligen Grals der Zunft –, doch die Menschheit als Ganzes profitiert mächtig davon.
Das gilt auch hierzulande. Avenir Suisse, die Denkfabrik der Wirtschaft, hat gefühlt Dutzende von Studien erstellen lassen, in denen unsere Bauern aufgefordert werden, sich endlich dem internationalen Wettbewerb zu stellen. Auch beim gefühlten tausendsten Anlauf, mit den USA ein Freihandelsabkommen abzuschliessen, werden die Bauern beschworen, endlich ihren Widerstand gegen T-Bone-Steaks und Gen-Mais aufzugeben.
Sind die Bauern zu egoistisch, zu eigensinnig oder einfach zu dumm, dass sie sich nach wie vor energisch gegen offene Grenzen in der Agrarwirtschaft wehren? Nein, sagt Mathias Binswanger, einer der führenden Schweizer Ökonomen. In seinem soeben veröffentlichten Büchlein «Mehr Wohlstand durch weniger Agrar-Freihandel» plädiert er vehement dagegen, bedingungslos die Grenzen für Nahrungsmittel zu öffnen.
Um klarzustellen: Binswanger stellt dabei die Segnungen des freien Handels nicht grundsätzlich in Frage. Er hält ihn bloss für die Landwirtschaft für fehl am Platz.
Die Preise für Rohmilch, Weizen und andere landwirtschaftliche Produkte sind seit 1990 um etwa 30 Prozent gesunken. Der Konsument merkt davon nichts, weil im Supermarkt die Preise für diese Produkte um rund 15 Prozent gestiegen sind. Binswanger stellt daher fest:
Dabei ist es nicht so, dass die Bauern sich nicht anstrengen würden. Im Gegenteil:
Grund für das Elend der Bauern ist die Tatsache, dass sie in einer fatalen Tretmühle stecken. Weil sie nur einen kleinen Teil ihrer Produkte direkt an die Konsumenten verkaufen, sind sie auf Grossverteiler angewiesen. Sie können sich von anderen Bauern nur dadurch abheben, dass sie mehr produzieren. Dies führt zu einem Verdrängungswettbewerb, bei dem immer weniger Bauern immer mehr produzieren.
Bauern können zwar mehr produzieren, Konsumenten jedoch nur sehr beschränkt mehr essen. Die Nachfrage nach landwirtschaftlichen Produkten ist daher, wie es in der Ökonomensprache heisst, unelastisch. Das Resultat bringt Binswanger wie folgt auf den Punkt:
Ausser ein paar wenigen Ländern wie Neuseeland profitiert kein entwickeltes Land vom Freihandel. Im Gegenteil: Alle versuchen, mit Subventionen ihre Bauern mehr schlecht als recht über Wasser zu halten. Die Folgen sind in den Augen von Binswanger «schizophren»:
Noch verheerender wirkt sich diese schizophrene Landwirtschaftspolitik auf die Entwicklungsländer aus. Afrika ist der Kontinent mit dem grössten Agrarpotential. Trotzdem wird derzeit rund ein Viertel der Lebensmittel importiert. Und dies, obwohl in einem Land wie Kenia rund 80 Prozent der Bevölkerung nach wie vor Kleinbauern sind.
Wie ist dies möglich? Deutschland beispielsweise exportiert nicht nur VWs und BMWs, sondern auch rund die Hälfte seiner hoch subventionierten Milch. Dabei werden die einheimische Natur zerstört, die Tiere gequält – und die afrikanischen Kleinbauern werden an die Wand geklatscht.
Anstatt für den heimischen Markt müssen die afrikanischen Bauern ihrerseits für den Export produzieren. Sie werden gezwungen, auf Dinge wie Kaffee- und Kakaobohnen auszuweichen, Dinge, die sie selber kaum konsumieren und die sie den Launen des internationalen Rohstoffmarktes und der Agrarmultis aussetzen. Das traurige Fazit:
Natürlich ist eine totale Ernährungssicherheit eine Illusion. Gerade ein gebirgiges Land wie die Schweiz ist auf den Import angewiesen, und Bananen wachsen selbst in der Sonnenstube Tessin nicht. Doch die aktuelle industrielle Landwirtschaft ist nicht nur eine ökologische Katastrophe. Sie hält die Bauern in einer fatalen Tretmühle gefangen und ist damit Dynamit für die soziale Lage in den Entwicklungsländern.
Gefragt ist daher kein Wildwuchs eines Freihandels, sondern ein fairer Handel in geordneten Bahnen. «In der Landwirtschaftspolitik sollten deshalb auch Überlegungen angestellt werden, wie die Bauern wieder verstärkt an der Wertschöpfung in der Lebensmittelproduktion partizipieren können», stellt Binswanger fest.
Für Laien scheint dies einleuchtend. Bis die Mehrheit der Ökonomen zu dieser Einsicht gelangen wird, dürfte es indes noch dauern. Das nächste Traktat von Avenir Suisse, das mehr Freihandel für die Agrarwirtschaft fordert, kommt so sicher wie das Amen in der Kirche.
Avenir Suisse ist der Lobby-Arm einiger Grossunternehmen. Nicht mehr und nicht weniger.
So kann 20-30 Jahre im grossen Stil produziert werden, was danach kommt interessiert keinen. Solange solcher Raubbau an Ökosystemen toleriert wird, führt das neoliberale Konzept vom freien Markt langfristig in eine Katastrophe.
Das Problem ist allen bekannt. aber interessieren kein Schwein