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Wie in den Siebzigerjahren gleitet die amerikanische Wirtschaft in eine jahrelange Stagflation ab. Europa versinkt gar in eine Depression, weil die hohen Energiepreise den mittelständischen Unternehmen das Rückgrat brechen. Eine Immobilienkrise und eine Rekorddürre beenden das chinesische Wirtschaftswunder. Die Schweizer Wirtschaft wird von einem viel zu starken Franken gelähmt und sieht die Arbeitslosenquote in den zweistelligen Prozentbereich klettern.
Okay, so weit sind wir noch nicht, aber wir bewegen uns in diese Richtung. Die aktuellen Diagnosen der Wirtschaftsdoktoren lassen nichts Gutes ahnen. So erklärt etwa Jerome Haegeli, Chefökonom bei der Swiss Re, stellvertretend für die Mehrheit der Ökonomen gegenüber dem «Wall Street Journal»: «Die globale Wirtschaft befindet sich auf der Intensivstation. Eine weiche Landung ist Wunschdenken geworden.»
Was sind die Gründe für diese unheilvolle Entwicklung? Einerseits sind es die bekannten Verdächtigen. Die Pandemie hat ein Chaos bei den Lieferketten verursacht und Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine die Energiepreise explodieren lassen. Neuerdings mischen jedoch auch noch die Zentralbanker mit. Sie haben in einer konzertierten Aktion weltweit die Leitzinsen erhöht und damit der Wirtschaft einen weiteren Dämpfer verpasst.
Angefangen hat es mit der Zusammenkunft der Notenbanker in Jackson Hole Ende August. In diesem idyllischen Tal in den Rocky Mountains im US-Bundesstaat Wyoming treffen sich die Herren des Geldes jährlich zum Gedankenaustausch. Dieses Jahr sind sie dabei zu dem Schluss gekommen, dass die Inflation mit gröbstem Geschütz bekämpft werden muss. «Seit Jackson Hole haben sich die Zentralbanker entschieden, dass sie sich im schlimmsten Fall auf der harten Seite irren wollen», erklärt Christian Keller, Chefökonom der Barclays Investment Bank, gegenüber der «Financial Times».
Wie immer hat die bedeutendste Notenbank der Welt, die US-Fed, die Führung übernommen. In mehreren Schritten hat sie den Leitzins mittlerweile auf eine Bandbreite von 3 bis 3,25 Prozent erhöht. Bis Ende Jahr wird allgemein eine Erhöhung der Bandbreite auf 4,25 bis 4,5 Prozent erwartet. «Wir werden weitermachen, bis wir zuversichtlich sind, dass wir den Job erledigt haben», erklärt dazu Fed-Präsident Jerome Powell.
Ob Indonesien oder Norwegen, ob Südafrika, Schweden, Taiwan oder Grossbritannien, überall sind in den vergangenen Tagen die Zentralbanken dem amerikanischen Vorbild gefolgt. Nach einer Erhöhung um 0,5 Prozentpunkte hat die Schweizerische Nationalbank den Leitzins ebenfalls um 0,75 Prozentpunkte erhöht und damit die Jahre der Negativzinsen beendet.
Leitzinserhöhungen der Zentralbanken sind eine plumpe Waffe. Man haut damit der Wirtschaft über den Kopf und stürzt sie in eine künstliche Rezession. Damit soll die Lust der Unternehmer, die Preise zu erhöhen, und die Lust der Gewerkschaften auf Lohnerhöhungen gedämpft und die Inflation so in die Knie gezwungen werden.
Leitzinserhöhungen sind jedoch auch eine wirksame Waffe. Die Finanzmärkte haben bereits reagiert. In den letzten Tagen sind die Aktienkurse weltweit eingebrochen; und sie brechen weiter ein, denn die Investoren haben begriffen, dass die Zentralbanker wild entschlossen sind, den Kampf gegen die Inflation mit aller Härte durchzuführen, und vorläufig keine Entspannung an der Zinsfront zu erwarten ist.
Das harte Vorgehen der Zentralbanker birgt jedoch grosse Risiken für die reale Wirtschaft. Haben die Zentralbanker die Inflationsgefahr vor Jahresfrist noch unterschätzt und sie als «vorübergehend» eingestuft, besteht nun die Gefahr, dass sie überreagieren. «Sie bewegen sich so schnell, dass keine Zeit bleibt, den Effekt auf die Wirtschaft einzuschätzen», erklärt Nathan Sheets, Chefökonom der Citibank, in der «Financial Times».
Maurice Obstfeld, der ehemalige Chefökonom des Internationalen Währungsfonds, geht noch einen Schritt weiter. In einer kürzlichen Analyse stellt er fest: «Die Zentralbanker sind offensichtlich bemüht, die Leitzinsen zu erhöhen, weil sich die Inflation auf einem Niveau befindet, wie wir es seit zwei Generationen nicht mehr erlebt haben. Aber man kann auch zu viel des Guten tun. Jetzt müssen die Geldpolitiker über den Tellerrand hinausblicken.»
Tatsächlich werden die Bremsspuren in der realen Wirtschaft bereits sichtbar. Die deutsche Wirtschaft, die Lokomotive Europas, hat sich deutlich abgeschwächt. Die jüngsten Zahlen deuten darauf hin, dass eine Rezession kaum mehr vermeidbar ist. «Die Situation wird zunehmend dramatisch, vor allem für die mittleren Unternehmen in der Autoindustrie», sagt Hildegard Müller, die Präsidentin des Verbandes der Automobilindustrie.
Noch dramatischer ist die Lage im Vereinigten Königreich. Zu den Widrigkeiten der Geopolitik gesellt sich noch die Inkompetenz der Politik. Eine Möchtegern-Margaret-Thatcher als neue Premierministerin und ein unverantwortlicher Finanzminister haben mit ihren Steuersenkungsplänen die Finanzgemeinde derart aufgeschreckt, dass das Pfund erstmals unter den Dollar gesunken ist und die Bank of England die Leitzinsen nochmals erhöhen muss, obwohl sich die Wirtschaft bereits in einer Rezession befindet.
«Das Vereinigte Königreich verhält sich ein bisschen wie ein Schwellenland, das sich in ein Entwicklungsland verwandeln will», kommentiert Lawrence Summers, der ehemalige US-Finanzminister, dieses Vorgehen.
Die deutsche Abschwächung gründet in der Energiekrise, nicht in Zinserhöhungen.
Vielleicht wird die Landung nicht so weich wie gewünscht, aber so dramatisch wie beschrieben wird sie wohl auch nicht sein.
Die Pandemie plus Stimulus haben zu Aufholeffekten geführt. Die Nachfrage muss sich normalisieren.