Einen stärkeren Dollar, ein schwaches Europa und billiges Öl prophezeien alle Chefökonomen der Banken für 2015 und empfehlen, in Aktien zu investieren. Sehen Sie das auch so?
Gérard Piasko: Die Finanzmärkte befinden sich in einem so genannten Schildkrötenzyklus, und die Schildkröte ist ein Tier, das sich langsam bewegt, aber auch unterschätzt wird. Auf die Finanzmärkte bezogen heisst dies: Wir haben ein paar Jahre hinter uns, in denen die Finanzmärkte stark angestiegen sind. Wir gehen davon aus, dass sie weiter wachsen können, aber deutlich langsamer und volatiler. Die Ertragserwartungen müssen demzufolge realistischer werden.
Es gibt in der Ökonomenzunft zwei Lager: Die Universitäts-Ökonomen warnen vor Stagnation und Deflation, die Bankenökonomen sagen: Kauft Aktien, es geht weiter aufwärts. Woher kommt diese Diskrepanz?
Die Universitäts-Ökonomen haben die grossen Strukturänderungen im Auge, die Bankenökonomen konzentrieren sich mehr auf die Marktbewegungen der nächsten Monate.
Und wer hat Recht?
Beide. Strukturell hat sich die Weltwirtschaft in den letzten zehn Jahren tatsächlich verändert. In den Jahren 2001 bis 2011 konnte beispielsweise die chinesische Wirtschaft nicht schnell genug wachsen. Heute will China das gar nicht mehr, sondern man setzt auf eine nachhaltigere, aber eben auch langsamere Entwicklung. Weil China inzwischen die zweitgrösste Volkswirtschaft der Welt hat, bekommen dies alle zu spüren.
Was genau löst das bei uns aus?
Die Wirtschaft im Westen hat lange von starken Exporten nach China und auch starkem Kreditwachstum gelebt. Heute ist auch das Zweite nicht so wie früher möglich, die Banken werden immer stärker reguliert. Das spricht ebenfalls für einen Schildkrötenzyklus. Das Wachstum kann nicht mehr so kräftig sein wie im letzten Jahrzehnt, weshalb auch die Ertragserwartungen realistischer sein müssen – bei diesen tiefen Obligationenrenditen sowieso.
Warum bleiben die Bankenökonomen trotzdem so optimistisch?
Die Bankenökonomen sehen beispielsweise, dass sich die Konjunkturdaten aus den USA in den letzten Wochen klar verbessert haben. In Japan und Europa ist die Wirtschaft zwar weniger stark, aber wir haben weiterhin Wachstum. Das gibt Aktien trotz erhöhter Bewertung noch Aufwärtspotenzial. Dies auch darum, weil die Zentralbanken Japans und der Eurozone das Wachstum mittels Erhöhung der Geldliquidität stimulieren wollen, wie sie es schon angekündigt haben.
Alle Bankenökonomen kommen mehr oder weniger zum gleichen Schluss. Bewegen wir uns herdenmässig wieder auf eine neue Krise zu?
Die Tatsache, dass man gegen den Mainstream schwimmt, heisst nicht, dass man auch recht hat. Meistens liegt man sogar falsch. Letztlich zählen die Fakten, und die sagen: Die US-Wirtschaft wächst derzeit deutlich stärker als diejenige in Europa oder Japan. Daher kann die amerikanische Notenbank, die Fed, ihre Politik der zusätzlichen monetären Lockerung zurückfahren und zu einer normalen Geldpolitik zurückkehren. Deshalb wird der Dollar stärker, und so können ein tieferer Euro und Yen den Unternehmensgewinnen in Europa und Japan helfen.
Die Europäische Zentralbank (EZB) hingegen muss gegen drohende Deflation und Rezession ankämpfen. Warum macht sie nicht einfach das gleiche wie die Fed?
Das Problem ist die Gestaltung der europäischen Einheitswährung. Die Verantwortung über Steuern und Wirtschaftspolitik liegt nach wie vor bei den Nationalstaaten. Aber gleichzeitig gibt es einen Euro und durch die EZB eine gemeinsame Geldpolitik. Doch die EZB kann die teils sehr unterschiedlichen Interessen der einzelnen Länder nicht so rasch auf einen gemeinsamen Nenner bringen wie die Fed. Deshalb weist ihr Präsident Mario Draghi immer wieder mit Recht darauf hin, dass auch die Länder aktiv werden müssen.
Wie denn?
Staaten und Unternehmen müssen mehr investieren, in die Infrastruktur beispielsweise, sie hat es ja bitter nötig – und das Geld ist bei den tiefen Zinsen ja wieder billig. Das geschieht jedoch noch nicht, weil die Regierungen nicht gleicher Meinung sind.
Was kann die EZB in dieser verzwickten Lage tun?
Sie will – technisch ausgedrückt – ihre Bilanz verlängern, das heisst konkret: Sie will die Märkte und die Wirtschaft mit noch mehr Geldliquidität versorgen, ähnlich wie dies auch die US-Zentralbank getan hat.
Die Märkte mit Geld fluten? Wie macht die EZB das konkret?
Sie kauft Anleihen von Banken und reduziert die Obligationenrendite, d. h. die langen Zinsen. So bringt sie mehr Geld in Umlauf und senkt die Finanzierungskosten. Gegen diese Politik regt sich in einzelnen Ländern Widerstand.
Der Widerstand regt sich vor allem in Deutschland. Warum?
Weil es nicht den Idealen einer perfekten Wirtschaftspolitik entspricht und nicht unproblematisch ist. Doch die Inflation in Europa ist zu tief, die Wirtschaft wächst kaum – bald könnten die Absichten von Draghi zwangsläufig mehrheitsfähig werden.
Bisher hat sich die Deutsche Bundesbank (Buba) vehement dagegen gewehrt, dass die EZB wie die Fed im grossen Stil Staatsanleihen aufkauft und so die Bilanz verlängert. Warum sollte die Buba nun ihren Standpunkt ändern?
Wenn man unlimitiert Staatsanleihen von hoch verschuldeten Staaten kauft, ist das problematisch, weil die Fiskalhaushalte Sache der einzelnen Staaten und Regierungen sein sollten. Doch die EZB hat auch den Auftrag, für ein Inflationsziel Sorge zu tragen, d. h. sie muss auch die Deflationsgefahr bekämpfen. Daher will die EZB ihre Bilanz um eine Billion Euro ausweiten. Das kann sie nur, wenn sie nicht nur private, sondern auch staatliche Anleihen in einem limitierten Ausmass berücksichtigt. Die Märkte gehen heute schon davon aus, dass dies passieren wird.
In dieser Frage prallen zwei völlig verschiedene Ansichten von Wirtschaftspolitik aufeinander. Es ist ein Glaubenskrieg zwischen Angelsachsen und Deutschen geworden. Ist da ein Kompromiss überhaupt noch möglich?
Das ist schon sehr drastisch ausgedrückt. Doch Kompromisse werden geschlossen, wenn es dringend wird. Es ist fast wie im Herbst 2008 im amerikanischen Kongress. Auch damals wollte zunächst eine Mehrheit die Banken nicht unterstützen. Als es darauf zu einer Korrektur an den Finanzmärkten kam, hat man eingesehen, dass es nicht anders geht und zähneknirschend eingewilligt. Auch in Europa werden die Finanzmärkte oder die Wirtschaftslage und die tiefe Inflation einen Kompromiss erzwingen.
Wo sehen Sie Anzeichen dafür?
Je schwächer die Wirtschaftsentwicklung wird, desto grösser wird der Druck. Und selbst die deutsche Wirtschaft zeigt inzwischen Anzeichen einer Formschwäche. Daher steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem Kompromiss kommen wird.
Die Erwartungen an die EZB steigen. Kann Draghi diesen Erwartungen überhaupt noch gerecht werden?
Die EZB könnte bald Staatsanleihen aufkaufen müssen, denn sie hat die Markterwartung in diese Richtung schon stark erhöht. Wenn nicht, dann könnte es tatsächlich heikel werden, denn irgendwann müssen die Erwartungen mit Leistungen abgegolten werden.
Auch der politische Druck wächst. Italien beispielsweise ist de facto seit sechs Jahren in der Rezession, die Jugendarbeitslosigkeit ist dramatisch hoch. Wie lange machen die Italiener noch mit?
Die Anti-EU-Parteien haben überall Aufwind. Die Wirtschaft braucht Lösungen, aber die lassen sich nicht in einem grossen Wurf umsetzen. Es geht nur in kleinen Schritten und mit Massnahmen, die zum Teil unpopulär sind: Strukturreformen und Produktivitätserhöhungen sind aber in Europa notwendig.
2012 hatten schon viele den Euro abgeschrieben. Wird sich diese Situation 2015 wiederholen?
Die Situation ist nicht die gleiche. 2012 hatten wir einen schwachen Euro, weil damals ein Auseinanderbrechen der Einheitswährung tatsächlich eine reale Möglichkeit war. Jetzt haben wir erneut einen schwachen Euro. Doch diesmal ist es gewollt. Mit einer schwachen Währung soll die Wirtschaft angekurbelt werden. Europa will mit einer schwachen Währung am langsam wachsenden Kuchen der Weltwirtschaft teilnehmen, genauso wie es die Amerikaner nach der Krise mit dem Dollar gemacht haben. Und vergessen Sie nicht: Derzeit ist der Euro handelsgewichtet noch nicht billig. Er müsste gegenüber dem Dollar nochmals um mindestens zehn Prozent fallen, bevor er wieder als günstiger bezeichnet werden kann.
Warum schaut man nur auf den Dollar und die Exporte? Warum versucht man nicht, das gestörte wirtschaftliche Gleichgewicht innerhalb Europas wiederherzustellen?
Niemand schaut nur auf die Exporte, aber Abwertungen sind leichter durchzuführen als Strukturreformen. Daher hat Draghi auch gesagt, dass die EZB nicht alles allein bewirken kann, die Regierungen sollten mithelfen. Es ist nach wie vor im Ermessen jeder nationalen nördlichen Regierung, ihr Budget selbst zu gestalten. Natürlich würde es helfen, wenn im nördlichen Europa mehr ausgegeben würde für südeuropäische Güter, und wenn die Staaten, die mehr Geld zur Verfügung haben, mehr Investitionsausgaben tätigen würden. Aber man kann sie nicht dazu zwingen.
Öl ist rund 40 Prozent billiger geworden. Kann das die europäische Wirtschaft wieder auf Vordermann bringen?
Ein tiefer Ölpreis hilft vor allem den Ländern, die wenig Steuern auf Benzin und Heizöl erheben. Das ist primär Amerika. Dort hat der Konsument sofort mehr Geld in der Tasche, wenn er an der Tankstelle weniger bezahlen muss. In Europa hingegen ist der Treibstoff mit hohen Steuern belastet, deshalb ist der Effekt weit weniger ausgeprägt.
Die Wirtschaftskrise ist für einige Staaten eine Schuldenkrise geworden. Braucht es nicht einen Schuldenschnitt, damit etwa Griechenland oder Italien wieder normal wirtschaften können?
Es gibt keine magische Zahl, die festlegt, wie hoch die Schulden sein dürfen. Die Schulden sind weltweit angestiegen. Am besten wäre es natürlich, wenn diese Schulden durch ein stärkeres Wachstum abgebaut würden.
Wie soll das möglich sein? Wir sind ja in einem Schildkrötenzyklus.
Deshalb werden wir auch an der Schuldenfront keine Wunder erwarten dürfen. In Europa ist es derzeit viel wichtiger, dass die Arbeitslosigkeit sinkt. Wenn nicht, wird die politische Lage explosiv. Wir brauchen eine Stimulierung der Wirtschaft, auch von den Regierungen.
Dann müssen wir aber sofort aufhören mit der Schuldenpanik.
Europa insgesamt steht, was die Staatsschulden betrifft, besser da als die USA, besser auch als Grossbritannien. Europa muss aber auch – das steht ausser Zweifel – die Arbeitsproduktivität seiner Wirtschaft mit Reformen verbessern. Vergessen wir nicht: Auch Ronald Reagan hat in den 1980er Jahren kurzfristig Schulden erhöht, bevor die Wirtschaft wieder auf Touren kam. Es geht darum, dass wir eine pragmatische Wirtschaftspolitik betreiben und keine Glaubenskriege führen. Glaubenskriege haben Europa nie geholfen. Lieber Pragmatik statt Dogmatik.
Nach wie vor haben die Menschen Angst vor Inflation und Papiergeld. Wie berechtigt ist diese Angst?
Das Wichtigste ist, dass die Menschen einen Job haben und ein Einkommen. Sicher sind Inflationsbekämpfung und Werterhalt wichtig, aber der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit ist noch wichtiger. Das gilt vor allem aktuell in Europa. Daher müssen wir primär die Wirtschaft stimulieren und vor allem jungen Menschen wieder eine bessere Perspektive geben.
Die Schweiz ist zwar unglücklich mit der EU, aber auch ein Teil Europas. Was bedeuten die verhangenen Wirtschaftsaussichten für uns?
2015 wird das Jahr der europäischen Weichenstellungen werden. Die Schweizerische Nationalbank hat bisher sehr geschickt die schlimmsten Klippen umschifft, und wir wissen, dass sie weiterhin Kurs halten wird. Man kann ihr deswegen Opportunismus vorwerfen, aber was wäre die Alternative? Hart am Wind segeln? Letztlich hat sich der Pragmatismus der Nationalbank bewährt. Auch hier gilt: Pragmatik vor Dogmatik!