Kein Aufschwung in Sicht: Deutschland bleibt der kranke Mann Europas
Friedrich Merz lachte ein wenig gequält, als Monika Schnitzer ihm am Mittwoch «ein verspätetes Geburtstagsgeschenk» überreichte. Der deutsche Kanzler, der tags zuvor sein 70. Lebensjahr vollendet hatte, nahm von der Ökonomie-Professorin das jährliche Gutachten des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung entgegen, jenes fünfköpfigen Gremiums, dessen Angehörige in Deutschland schlicht «Wirtschaftsweise» genannt werden.
Schnitzer bemühte sich zwar, das Positive herauszustreichen, doch das liess sich allenfalls erkennen, wenn man als Vergleichsgrösse die Vorjahre zugrunde legte. Nach zwei Jahren Rezession, so die Ökonomin, werde die deutsche Wirtschaft dieses Jahr wieder wachsen, wenn auch nur um 0,2 Prozent. 2026, so meinte sie, könnten es 0,9 Prozent sein. Das sind gerade auch im Vergleich mit den europäischen Nachbarn magere Zahlen.
Merz will die Lage gar nicht beschönigen
Die Politik der deutschen Regierung sehen die «Wirtschaftsweisen» kritisch. Potenziell seien die Wachstumswirkungen des Finanzpakets, das Merz’ bürgerlich-sozialdemokratische Koalition im März verabschiedet habe, erheblich, sagte Schnitzer, doch die Betonung legte sie auf das Wort «potenziell». Die tatsächliche Wirkung, so erklärte sie, dürfte gering bleiben, denn nur ein Teil der Mittel sei für Investitionen vorgesehen.
Der Regierung empfiehlt das Expertengremium unter anderem eine Senkung der Unternehmenssteuer. Geringverdienern solle der Vermögensaufbau erleichtert werden, die Nachkommen von Familienunternehmern gelte es bei der Erbschaftssteuer zu entlasten.
«Wir wünschen viel Erfolg», schloss Monika Schnitzer ihre Ausführungen im Kanzleramt ab. Das mag als Ermunterung gemeint gewesen sein, könnte in Merz’ Ohren aber auch sarkastisch getönt haben, denn sein sozialdemokratischer Koalitionspartner macht es dem Christdemokraten schwer, wenn nicht unmöglich, einige zentrale Empfehlungen der «Wirtschaftsweisen» umzusetzen.
Deutschlands Probleme wollte der Kanzler gar nicht beschönigen: Die Steuer- und Abgabenlast sei ebenso zu hoch wie die Energiekosten, das Wachstum seit Jahren zu niedrig. Eine Vereinfachung von Genehmigungsverfahren kündigte Merz an, einen Rückbau der Bürokratie und die steuerliche Förderung von Investitionen in die Digitalisierung. «Wir nehmen, was sie schreiben, ernst, wir lesen es», sagte er zu Schnitzer.
Der Staat lebt weiter über seine Verhältnisse
Dabei dürfte dem Kanzler vor allem die Kritik am Ausgabeverhalten des Staates ins Auge springen. Vor allem die Zweckentfremdung von Mitteln aus einem Sondervermögen für Infrastruktur und Klimaneutralität, wie die Regierung die Aufnahme zusätzlicher Schulden in Höhe von 500 Milliarden Euro beschönigend nennt, stört die Ökonomen.
So werde in den kommenden Jahren wohl vor allem der Staatskonsum wachsen, nicht der private. Auch die Exporte, traditionell eine Stärke der deutschen Wirtschaft, würden schwach bleiben. All dies kaschiere der Staat durch ein Wachstum der eigenen Ausgaben.
Im Sozialsystem ist ebenso wenig Besserung zu erwarten: Das geplante Rentenpaket der Regierung – manche reden gar vom grössten sozialpolitischen Vorhaben des Jahrhunderts – könnte laut Schätzungen bis 2040 rund 230 Milliarden Euro kosten.
Die SPD von diesem Prestigevorhaben abzubringen, dürfte Merz allerdings kaum gelingen. Die Bundesrepublik mag sich in der schwersten wirtschaftlichen Krise seit ihrer Gründung befinden, doch scheint es erst noch schlimmer werden zu müssen, bis sich die Einsicht durchsetzt, dass das Land seit Jahren über seine Verhältnisse lebt. (aargauerzeitung.ch)
