Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich – dieses Bonmot, das fälschlicherweise Mark Twain zugeschrieben wird, bewahrheitet sich einmal mehr.
Als der Sudan 2007 wegen des blutigen Darfur-Konflikts mit westlichen Sanktionen belegt wurde, sprach der sudanesische Botschafter John Ukec Lueth Ukec eine unmissverständliche Drohung aus. Er hielt eine Flasche Coca-Cola in die Höhe und machte klar: Der Sudan ist der wichtigste Produzent von Gummi arabicum – einem Bindemittel, ohne das viele Produkte nicht auskommen. Unverblümt teilte er mit, dass er die Produktion problemlos einstellen könne.
Das Druckmittel zeigte Wirkung. Der Regierung gelang es, den klebrigen Stoff vom Embargo zu befreien. Nun ist die Industrie erneut in Gefahr – diesmal aus einem anderen Grund.
Neben Petroleum, Gas, Gold, Baumwolle und Sesam zählt Gummi arabicum zu den wichtigsten Exportgütern für den Sudan. Beim Rohstoff handelt es sich um einen Stoff, der aus dem Harz von Akazien gewonnen wird. Die Geschichte der klebrigen Substanz reicht bis ins alte Ägypten zurück. Damals wurden Tote mit dem Naturprodukt mumifiziert. Zuletzt soll Lenin damit eingestrichen worden sein, bevor er ins Mausoleum gebracht wurde. Heute dient der Stoff einem anderen Verwendungszweck: Lebensmittel, Medikamente und Kosmetika werden mit dem Naturprodukt «einbalsamiert».
Der essbare Kleber – auf Lebensmitteletiketten auch bekannt unter E414 – wird unter anderem als Binde- oder Verdickungsmittel verwendet. Er hat fast schon Superkräfte: In kohlensäurehaltigen Süssgetränken verhindert der Stoff, dass der Zucker auf den Boden sinkt. In Saucen sorgt der Stoff für eine feste Konsistenz. Im Bier kräftigt er den Schaum. Dem Wein entzieht er die Bitterkeit. In Gummibärchen verhindert er, dass der Zucker kristallisiert.
Der Stoff dient vor allem der Nahrungsmittelindustrie, er befindet sich in bekannten Produkten wie Coca-Cola, Pepsi und Mars. Auch die Pharma- und Kosmetikindustrie nutzen das Naturprodukt als Bindemittel oder Stabilisator. Typische Beispiele: mit Zucker überzogene Lutschtabletten, Mascara, Eyeliner.
Der weltweite Handel mit Gummi arabicum hatte 2021 nach Angaben der Online-Plattform Observatory of Economic Complexity einen Wert von rund 363 Millionen US-Dollar. Der Sudan war 2021 für den Export von Gummi arabicum im Wert von 111 Millionen US-Dollar verantwortlich – dieses war damit das am achthäufigsten exportierte Produkt aus dem nordostafrikanischen Land. Je nach Schätzungen stammen zwischen 60 und 80 Prozent des weltweit gehandelten Gummi arabicum aus dem Sudan. Die grössten Abnehmer: Frankreich, die USA, Deutschland sowie das Vereinigte Königreich. Sprich: Länder mit millionenschweren Nahrungsmittelherstellern.
Doch nicht nur Nestlé, Cola, Pepsi, Mars und Co. sind vom Stoff abhängig. Schätzungen zufolge erzielen rund fünf der 45 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner direkt oder indirekt ein Einkommen aus der Produktion des Naturkristalls. Doch wie lange noch?
Nach zwei Jahrzehnten Krieg und Frieden sind im Sudan in diesem Jahr neue Kämpfe entfacht. Seit April kämpft die Armee gegen die einst verbündete paramilitärische Einheit Rapid Support Forces (RSF) um die Macht im Land. Inmitten der schweren Gefechte verzeichnet der Sudan einen Preisverfall des Rohstoffes von etwa 60 Prozent.
«Die Auseinandersetzungen haben den Gummi-arabicum-Handel zweifellos negativ beeinflusst», sagt der südsudanesische Journalist Akol Miyen Kuol gegenüber Al Jazeera. Er befürchtet, dass die Produktion bald völlig zu unterbrechen droht, sollten die Kämpfe nicht bald enden.
Im Sudan wächst der Akaziengummibaum auf einem langen Gürtel von 500'000 Quadratkilometern, der von West-Darfur, nahe an Grenze des Tschad, bis nach Al-Qadarif im Südosten des Landes reicht. Der wichtigste Hafen des Landes liegt in Port Sudan, im Nordosten des Landes.
Brennpunkt der Kämpfe ist die Hauptstadt Khartum, wo sich die Exportzentrale befindet. Im Strudel der Gewalt befindet sich auch die Region Darfur im Norden, wo sich eine der wichtigsten Produktionsstätte befindet. Nahe der Provinz sind soeben 87 getötete Menschen entdeckt worden, die in einem Massengrab verscharrt worden seien, darunter 14 Frauen und Kinder.
Alle Hauptproduktionsgebiete sind dem Journalisten Akol Miyen Kuol zufolge indirekt oder direkt vom Konflikt betroffen. Das grösste Problem ist allerdings nicht die eingeschränkte Produktion, sondern die Logistik. Der Transport ist so gefährlich wie herausfordernd. Es soll an Lastwagen fehlen. Viele seien aufgrund der Kreuzfeuer zerstört oder beschlagnahmt worden, berichten Anwohner gegenüber Africannews. Ein weiteres Hindernis: An den Tankstellen ist der Treibstoff knapp und beinahe unbezahlbar geworden.
Auch wenn die Einwohnerinnen und Einwohner bereit sind, den riskanten Weg auf sich zu nehmen, haben sie oft Mühe, ein Transportmittel zu finden, bestätigt Sahel-Analyst Eugene Puryear gegenüber «Al Jazeera». Weiter sagt er: «Der Zugang zu Transportmitteln wurde erheblich eingeschränkt und letztendlich ist der Preis des Stoffes so stark gesunken, dass es sich nicht einmal mehr lohnt, ihn auf den Markt zu bringen.»
Dass der Preisverfall eine ernsthafte Bedrohung für die Industrie darstellt, bestätigt William Lawrence, Professor für internationale Angelegenheiten an der American University in Washington D.C, gegenüber dem arabischen Nachrichtensender. Seit den 1950er-Jahren dominiere der Sudan den Gummimarkt, sagt er. Nun könnten die Abnehmer des relativ preiswerten Gummis versuchen, ihre Zutaten zu diversifizieren. Aber womit?
Die Lebensmittel- und Pharmaindustrie kommt ohne Gummi nicht aus. Das zeigte sich 2007, als der klebrige Stoff aus dem US-Embargo entfernt wurde. Analysten warnen bereits, dass Getränkehersteller und Pharmaunternehmen weltweit erheblich eingeschränkt sein könnten, wenn nicht bald ein Waffenstillstand eintritt. Andere Hauptanbauländer in der Sahelzone, wie der Tschad, Somalia oder Nigeria, können die Nachfrage nicht stemmen. Diese exportieren nur in geringen Mengen.
Auch andere Ersatzstoffe können kaum in die Bresche springen. «In manchen Produkten könnten Pektin oder Maisfaser eingesetzt werden, doch das kommt nicht an den Nutzen von Gummi arabicum heran», sagt Martijn Bergkamp, Partner beim niederländischen Unternehmen Foga, das sudanesisches Gummi arabicum importiert und verarbeitet, im Wall Street Journal.
Mit dieser Ansicht steht er nicht alleine da: «Es wäre möglich, einen Ersatz für Gummi arabicum zu finden, beispielsweise einen Stabilisator auf Stärkebasis», schätzt Sahel-Analyst Puryear ein. Doch dies würde nicht über Nacht geschehen. Je länger der Konflikt andauere, so Puryear, desto grösser werde der Stress für die betroffenen Unternehmen. Noch bestünde bei den Herstellern einen Vorrat von mindestens sechs Monaten, so Martijn Bergkamp.
Wenn das Zeug so wichtig ist, das Hauptexportland im Chaos versinkt, alle anderen Länder nicht einspringen können und es auch keinen gleichwertigen Ersatz dafür gibt:
Warum ist es so billig?