Das Votum über den neuen Brexit-Deal im britischen Parlament am Samstag könnte wohl von einer Handvoll Stimmen entschieden werden. Das geht aus verschiedenen Analysen britischer Medien am Freitag hervor.
Premierminister Boris Johnson hatte nach dem Durchbruch bei den Verhandlungen mit der EU am Donnerstagabend gesagt, er sei «sehr zuversichtlich», dass die Parlamentarier in London diesem «grossartigen neuen Deal» zustimmen. Noch am Donnerstag telefonierte der Premierminister mit mehreren Abgeordneten, wie Downing Street mitteilte.
Doch Johnson hat keine eigene Mehrheit im Parlament. Trotzdem hatte er sich nach der Einigung beim EU-Gipfel am Donnerstag «sehr zuversichtlich» gezeigt, dass Abgeordnete aller Parteien bei näherer Prüfung den Nutzen einer Zustimmung erkennen könnten. Am frühen Freitagabend wollte der Regierungschef sein Kabinett auf den neuesten Stand bringen.
Auf die Hilfe der bisher verbündeten DUP darf Johnson nicht hoffen. Die nordirisch-protestantische Kleinpartei lehnt das Abkommen ab und will bei der historischen Sitzung des Parlaments am Samstag geschlossen dagegen stimmen.
Das machte der DUP-Brexit-Experte Sammy Wilson am Freitag in mehreren BBC-Interviews deutlich. Es handle sich um einen «vergifteten Deal». Auf Twitter rief er Tory-Abgeordnete dazu auf, sich dem Abkommen ebenfalls zu widersetzen.
Bei den Brexit-Hardlinern in Johnsons Konservativer Partei traf das Austrittsabkommen jedoch offenbar auf weitgehende Zustimmung. Die auch als «Spartaner» bekannten Mitglieder der innerparteilichen European Research Group (ERG) wollten sich Samstag früh über ein gemeinsames Vorgehen beraten. Erwartet wird jedoch, dass Johnson die überwiegende Mehrheit der Hardliner auf seiner Seite hat.
Unterstützung erhielt der Premier auch von einigen ehemaligen konservativen Parlamentariern und Labour-Abgeordneten. Ob das für eine Mehrheit ausreichen wird, ist aber ungewiss.
Beobachtern zufolge fehlen ihm mindestens zwei bis sechs Stimmen. Hinter den Kulissen wurde am Freitag Berichten zufolge von beiden Seiten heftig um Stimmen geworben und gedroht. Von «mittelalterlichen» Methoden war die Rede.
Die Opposition dürfte darüber hinaus versuchen, Änderungsanträge einzubringen, etwa um ein Referendum über das Brexit-Abkommen durchzusetzen.
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker warnte vor den Folgen einer Ablehnung des Brexit-Abkommens im britischen Parlament. Wenn es in Westminister keine Zustimmung gebe, «dann sind wir in einer extrem komplizierten Situation», sagte Juncker in der Nacht auf Freitag beim EU-Gipfel in Brüssel.
Sollte der Deal in Westminister durchfallen, stellt sich die Frage eines weiteren Aufschubs für den Brexit. Johnson will den EU-Austritt unter allen Umständen zum 31. Oktober, notfalls auch ohne Abkommen.
Das britische Parlament hatte allerdings im September ein Gesetz zur Verhinderung eines ungeregelten EU-Austritts beschlossen. Demnach muss Johnson bei der EU eine erneute Brexit-Verschiebung beantragen, sollte es bis Samstag keine Zustimmung zu einem Austrittsabkommen im Parlament geben. Der Premierminister bleibe bei seiner Haltung: «das neue Abkommen oder kein Abkommen, aber keine Verschiebung», hiess es aus Regierungskreisen in London.
Brexit-Gegner wollen am Samstag mit einer grossen Demonstration in London für eine Abkehr vom EU-Austritt werben. Sollte das Unterhaus dem Brexit-Vertrag zustimmen, müssten ihn auch die EU-Abgeordneten noch ratifizieren. Bereits am Donnerstag kommender Woche könnte es dazu eine Sitzung geben. (aeg/sda/apa/dpa/afp)