«Wenn du es in New York schaffst, dann kannst du es überall schaffen», sang einst Frank Sinatra. Im Dixieland gibt es nun eine neue Version dieses Klassikers. Sie lautet: «Wenn du in Bessemer gewinnen kannst, dann kannst du überall gewinnen.» Um was geht es?
Bessemer ist eigentlich ein Kaff im tiefsten Süden des Bundesstaates Alabama. Doch derzeit steht es im Mittelpunkt der amerikanischen Politik, zumindest was die künftigen Beziehungen der Sozialpartner betrifft. In Bessemer betreibt Amazon nämlich ein Logistikzentrum mit 6000 Angestellten. Sie wollen sich einer Gewerkschaft anschliessen, während Jeff Bezos & Co. dies mit aller Macht verhindern wollen.
Die Arbeiterinnen und Arbeiter haben inzwischen ihre Stimme abgegeben. In den nächsten Tagen wird das Resultat ausgezählt. Es wird historisch sein, denn was sich in Bessemer abspielt, ist mehr als ein lokaler Arbeitskampf. Die Zukunft der Gewerkschaften in den USA wird massgeblich davon betroffen sein.
Amazon fühlt sich im Recht. Die Firma zahlt bereits heute einen Mindestlohn von 15 Dollar die Stunde und bietet für amerikanische Verhältnisse einen komfortablen Krankenkassen-schutz an. Was wollen die Arbeiterinnen und Arbeiter also mehr?
Sie fühlen sich gedemütigt und zu Robotern degradiert. Bei Amazon herrscht ein Hyper-Taylorismus. Winslow Taylor hat gegen Ende des 19. Jahrhunderts das sogenannte «wissenschaftliche Management» erfunden, will heissen: Er hat jeden Arbeitsprozess in seine Einzelteile zerlegt und festgelegt, wie lange der Arbeiter dafür aufwenden darf.
Jeff Bezos hat dieses Prinzip bei Amazon auf die Spitze getrieben. Die Arbeiter müssen festgelegte Arbeitsläufe in einer festgelegten Zeit absolvieren und werden dabei genauestens überwacht. Selbst die Toilettenpausen dürfen nicht länger sein als vier Minuten. Damon Silvers von der Gewerkschaft A.F.L.-C.I.O. beschreibt dies im «New Yorker» wie folgt:
Gegen dieses rigide System lehnen sich die Arbeiter auf. So erklärt etwa Perry Connelly, ein betroffener Arbeiter, gegenüber der «Financial Times»: «Sie sagen mir, wie lange ich die Toilette benützen darf. Ich bin ein erwachsener Mann. Es dauert, solange es dauert.»
Amazon hingegen fürchtet sich vor europäischen Zuständen. In Frankreich, wo die Angestellten gewerkschaftlich organisiert sind, musste Amazon während der Coronakrise seine sechs Logistikzentren schliessen. In Italien gingen die Arbeiter nach Hause und verlangten «menschlichere Arbeitszeiten». In den USA hingegen gab es nur wenige und kurze Arbeitsunterbrechungen.
Das soll sich nun auch in Nordamerika ändern. Die Gewerkschaften rechnen sich gute Chancen aus, den Arbeitskampf zu gewinnen. Das sind die Gründe:
Amazon hat inzwischen gegen eine Million Angestellte und ist nach Walmart der zweitgrösste Arbeitgeber in den USA. Das Unternehmen floriert. Dank dem Lockdown hat der Umsatz 2020 um sagenhafte 38 Prozent zugenommen, mehr als 500’000 Arbeitnehmer wurden eingestellt. Jeff Bezos selbst soll im vergangenen Jahr um rund 70 Milliarden Dollar reicher geworden sein.
Angesichts dieser Zahlen scheinen die Forderungen der Arbeitnehmer mehr als gerechtfertigt zu sein. Sie erhalten denn auch Zuspruch von ganz oben. Bernie Sanders ist eigens nach Bessemer gereist, um die Arbeiterinnen zu unterstützen. Präsident Joe Biden hat derweil die Arbeitgeber gewarnt, die Arbeitnehmer einzuschüchtern.
Genau dies tun jedoch die Amazon-Manager. Sie haben die Abstimmung unnötig kompliziert gestaltet und die Urnen per Video überwachen lassen. Gewerkschaftsvertreter durften das Firmengelände nicht betreten. Innerhalb des Logistikzentrums waren überall Anti-Gewerkschafts-Parolen aufgehängt und die Vorgesetzten verabreichten ihren Untergebenen regelmässig Lektionen, weshalb sie Nein stimmen sollten.
Trotzdem könnte Amazon als Verlierer dastehen. Nicht nur die Linken stehen hinter den Gewerkschaften, für einmal machen auch die Konservativen mit. So hat beispielsweise Marco Rubio, ein republikanischer Senator aus Florida, ebenfalls zu einem Ja für die Gewerkschaften aufgerufen. Weshalb?
Amazon ist der herausragende Vertreter dessen, was neuerdings «woke capitalism» genannt wird. Woke ist der Überbegriff für linksliberalen Multikulturismus. Gegen diesen Woke-Kapitalismus schiessen auch die Konservativen aus vollen Rohren. Dazu kommt, dass Jeff Bezos auch Eigentümer der linksliberalen «Washington Post» ist, ein weiteres Feindbild der Konservativen. Deshalb wäre es den Rechten noch so recht, würde Bezos eine Niederlage erleiden.
Schliesslich ist der Arbeitskampf in Dixieland Teil des Kampfes gegen Rassismus und für die Rechte der Schwarzen. Drei von vier Angestellten des betroffenen Logistikzentrums sind schwarz. «Bessemer ist nun unser Selma» erklärt Reverend William Barber, ein bekannter Geistlicher. Selma ist der Ort – ebenfalls in Alabama –, wo 1965 die Bürgerrechtsbewegung unter Martin Luther King einen legendären Protestmarsch über die örtliche Brücke durchgeführt hatte.
Der Arbeitskampf in Bessemer ist daher erst der Beginn eines langen Kampfes. «Jeff Bezos muss sich warm anziehen», sagt Nina Turner, eine demokratische Senatorin, der «Financial Times». «Wir haben die Arbeiterbewegung mit der Bürgerrechtsbewegung vereinigt. Dank all den Fortschritten, die wir gemacht haben, werden wir dieses Ding wiederholen.»
Amazon ist die Pest.